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„Wir machen aus Gesundheitsdaten niemals ein Geschäftsmodell“

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Die private Krankenversicherung will bei einem einheitlichen, digitalen Gesundheitswesen nicht außen vor bleiben. Doch viele Anforderungen sind anders als in der GKV-Welt. Wir haben Annabritta Biederbick und Roland Weber, Vorstände des PKV-Marktführers Debeka, um eine Bestandsaufnahme gebeten.

Herr Weber, über die Digitalisierung im deutschen Gesundheitswesen wird derzeit viel gesprochen. Was bedeutet das konkret im Alltag einer privaten Krankenversicherung?

Roland Weber: Erstmal sind wir froh, dass es wieder vorangeht. Als PKV waren wir ja schon mal Gesellschafter der gematik. Weil es dort aber immer einen Patt zwischen Leistungserbringern und Kostenträgern geben hat, sind wir da nicht weitergekommen. Deswegen sind wir als PKV ausgestiegen. Wir sind jetzt wieder dabei, weil wir gesehen haben, dass Jens Spahn sich bemüht, dass wir endlich vorankommen. Wir begrüßen es, dass die Bundesregierung die Mehrheit an der gematik übernommen hat, um Nägel mit Köpfen zu machen und wir endlich die verlorene Zeit aufholen können. Schwieriger wird es für uns bei der Frage, inwieweit die PKV so bindend mitmachen kann wie die GKV. Letztlich kann Jens Spahn immer nur Gesetze für die gesetzliche Krankenversicherung erlassen.

Annabritta Biederbick: Als PKV sagen wir: Wenn wir Digitalisierung wollen, dann müssen uns an die Datenautobahnen der GKV anschließen, denn wir sind zu klein, um eine eigene Infrastruktur aufzubauen. Der gesamte PKV-Versicherungsmarkt ist gemessen an der Mitgliederzahl ja kleiner als die Techniker Krankenkasse. Der Gesetzgeber kann die PKV und die Privatärzte und gerade auch die Versicherten nicht so einfach verpflichten, diese technische Infrastruktur zu benutzen, weil wir in dem SGB V-System nicht so drin sind. Deswegen ist das bei uns eine Freiwilligkeit. Umso wichtiger ist es für uns, die Infrastruktur der GKV zu benutzen, denn wenn ein Arzt diese für die gesetzlich Versicherten benutzt, dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass er die gleichen Prozesse auch für die Privatversicherten anwendet. Wie werden unsere Mitglieder oder Kunden aber nicht nur mit der ePA, die momentan noch nicht viel kann, begeistern können. Um sie wirklich zum Mitmachen zu bewegen, werden wir noch zusätzliche Dienste draufsetzen müssen. Natürlich ist die ePA auch für GKV-Mitglieder freiwillig, aber das Konzept ist fester im SGB V-System verankert. Allgemein gilt, dass so ein E-Health-Konzept ja oft nur dann Sinn macht, wenn möglichst viele mitmachen. Hier können wir uns z. B. eigene Use Cases vorstellen. Ich möchte an dieser Stelle gleich ein Beispiel geben für die Besonderheiten in der PKV. Wenn sich die PKV an den gematik-Prozess des E-Rezepts der GKV andockt, dann hört der Prozess in der Apotheke auf, wenn der Versicherte das Medikament bekommt. Bei uns ist aber noch der ganze Erstattungsprozess mit dran. Den interessiert aber die GKV nicht. Das heißt, wir müssen sehr viel mehr draufsetzen als die GKV, unabhängig von gematik, um gute Use Cases hinzubekommen. Also, wir sehen die Entwicklung ingesamt sehr positiv, aber wir werden die Versicherten überzeugen müssen, durch wirklich smarte Anwendungen.

Gibt es denn schon Partner und einen Zeitplan für die konkrete Ausgestaltung der ePA?

Roland Weber: Um es gleich vorwegzunehmen: Ich halte aus IT-Sicht das Konzept einer ePA, die noch auf dem Konzept einer physischen Karte basiert, für nicht mehr zeitgemäß. Ich wünsche mir stattdessen moderne Smartphone-Anwendungen für den Zugang zur Telematikinfrastruktur. Ob das möglich ist, ist allerdings noch offen. Ich hoffe, dass wir beim Thema der alternativen Identitäten schnell weiterkommen, über den Gesetzgeber, über das BSI.

Annabritta Biederbick: Was den Zeitplan angeht. Im PKV-Verband gibt es ein großes gematik-Projekt, in dem notwendige Prozesse, die dem vorgelagert sind, z. B. dass jeder Versicherte eine Krankenversicherungsnummer bekommt, aufgebaut werden. Als Debeka überlegen wir jetzt, wie wir dieses Projekt am besten aufziehen und wie wir unseren Versicherten diese Anwendungen am besten zur Verfügung stellen können. Ein naheliegender Weg wäre über unser Gesundheitsportal „Meine Gesundheit“, das wir vielen Versicherten anbieten und auch noch ausbauen wollen, auch in Zusammenarbeit mit der CompuGroup und anderen großen privaten Krankenversicherern wie der Axa, der Huk oder auch der Bayerischen Beamtenkrankenkasse. Aus Versichertensicht wäre es naheliegend, dass das Gesundheitsportal und ePA mit ihren Anwendungen und auch die anderen TI-Anwendungen in einem gemeinsamen Frontend zur Verfügung stehen. Einen ganz festen Zeitplan haben wir aber noch nicht, weil wir noch eine gewisse Sicherheit in der Gesetzgebung abwarten. Schaffen wie eine Gesundheitskarte an oder nicht? Das sind schon große Prozesse bei der Debeka, allein der Kartenausgabeprozess. Aber natürlich stemmbar. Das muss in die Planungen einfließen. Also, es gibt noch keinen festen Zeitplan, aber wir sind am Planen.

Eine aktuelle Debatte dreht sich um die Kriterien im Rahmen der Zertifizierung der DiGAs beim BfArM, z. B. im Hinblick auf den medizinischen Nutzen oder auch die Preisbildung. Die privaten Krankenversicherer haben ein eigenes Zulassungsverfahren ins Spiel gebracht. Warum?

Annabritta Biederbick: Im Detail muss man da natürlich genau hinsehen. Die DiGAs sind bei uns ein großes Thema, auch getrieben durch das Gesetz. Was wir beobachtet haben im Rahmen von Versorgungsprogrammen, die wir unseren Versicherten haben zugute kommen lassen, ist, dass sich durch die neuen Möglichkeiten der GKV-Erstattung die Preise der DiGAs teilweise verzichtfacht haben. Das ist für einen Kostenträger natürlich sehr, sehr unschön, wenn er ein smartes Tool entdeckt, das seinen Versicherten nützt und das er gerne zur Verfügung stellen möchte. Und allein aus dem Grund, dass sich daraus ein größerer Markt ergibt, die Preise angehoben werden. Wir haben deswegen auch schon Tools aus Versorgungsprogrammen rausgenommen und was Alternatives reingetan. Da fragt man sich natürlich schon, ob die Preisgestaltung da richtig ist und man vielleicht noch regulieren muss.

Die PKV muss sich in diesem Punkt auch immer die Frage des Wettbewerbs stellen, des Wettbewerbs zur GKV. Die GKV ist bei den DiGAs natürlich vorgeprescht, durch die Gesetzesinitiativen von Jens Spahn. Und die DiGAs werden ja auch bezahlt, wenn sie das Zertifizierungsverfahren durchlaufen haben. Da muss sich die PKV erstmal fragen: Wollen wir das auch? Uns wurde das nicht vorgeschrieben. Wir fragen uns: Wollen wir „nur“ die DiGAs der GKV erstatten oder wollen wir schneller sein? Oder wollen wir unseren Versicherten auch DiGAs zur Verfügung stellen, die das Zertifizierungsverfahren nicht überstanden haben, aus welchen Gründen auch immer. Oder Startups sagen: „Das ist uns zu teuer“, d. h. sie wollen bewusst das Zertifizierungsverfahren des BfArM umgehen. Das gibt es ja auch. Diese Startups wollen die DiGA lieber auf dem Selbstzahlermarkt etablieren plus eben PKV. Diese Fragen müssen wir uns stellen. Und daran anschließend: Brauchen wir ein eigenes Zertifizierungsverfahren als PKV? Nur etwas zu erstatten was wir nett finden, reicht ja auch nicht. Eine App sollte ja auch eine gewisse Wirkung haben und zum Therapieerfolg beitragen. Und es gibt natürlich Datenschutzfragen.

Roland Weber: Es ist ein bisschen so, wie wir das seit vielen Jahren aus dem Gemeinsamen Bundesausschuss kennen, der oft lange braucht bis er neue Verfahren und Methoden für die GKV zulässt. Und wir als PKV da schneller waren und den G-BA damit unter Druck gesetzt haben, weil die gesetzlichen Kassen das auch wollten. Diesen Wettbewerb wollen wir auch im Bereich der DiGAs aufrechterhalten. Wir waren z. B. die ersten die Telekonsultationen für unsere Versicherten ermöglicht haben. Vielen gesetzlichen KVs sind danach auf den Zug aufgesprungen. Und sind jetzt froh, in Corona-Zeiten über diese Möglichkeit zu verfügen. Das BfArM wird sich der bei der DiGA-Zulassung fragen: „Wofür ist die GKV da?“. Die GKV stellt Leistungen für das medizinisch Notwendige und für als politisch sinnvoll erachtete Sachverhalte im Rahmen des SGB V bereit. Die PKV funktioniert da anders.

Neue Apps und Online-Programme bieten die Möglichkeit einer neuen Servicequalität und auch einer neuen Art der medizinischen Versorgung. Mir ist aufgefallen, dass das Angebot vieler gesetzlicher Krankenkassen im Vergleich zu den Privaten deutlich vielfältiger ist. Woran liegt das?

Annabritta Biederbick: Einige Anwendungen sind bei uns im Internet ein bisschen versteckt. Wir haben da eine Philosophie. Wir wollen Versicherten nicht „irgendeine“ App anbieten. Ich nenne jetzt mal „mySugr“, ohne die App bewerten zu wollen. Wir sagen unseren Versicherten nicht: „Benutzt die App!“. Und lassen Sie dann alleine. Unsere Philosophie beim Gesundheitsmanagement lautet, dass wir die Versicherten begleiten wollen und die Apps dabei unterstützend sind. Bei einer Diabetiker-App wollen wir z.B. auch einen Coach zur Verfügung stellen, der die Werte mit den Versicherten gemeinsam durchgehen kann. Wir haben ein Online-Programm für psychisch Kranke. In unserem Diabetiker-Versorgungsprogramm haben wir eine App eingebaut. Wir haben ein Schlafprogramm mit mehreren verschiedenen Apps. Wir haben also Apps in der Anwendung, aber immer nur eingebettet in Versorgungsprogramme. Auch die TeleClinic erstatten wir. Was wir nicht haben, sind reine Präventionsprogramme, z. B. eine Fitness-App. Wir wollen zwar immer mehr Gesundheitsdienstleister werden, aber sind doch in erster Linie Krankenversicherer. Das hat auch sehr mit unseren Tarifen und auch mit der Versicherungsaufsicht zu tun. Bei uns ist der Versicherungsfall die medizinisch notwendige Heilbehandlung einer Krankheit oder von Unfallfolgen. Und Schwangerschaft z. B., was natürlich keine Krankheit ist. Es muss also erstmal überhaupt ein Versicherungsfall vorliegen, bevor wir ins Spiel kommen und Erstattungen leisten können. Da gibt es eine Diskussion mit den Aufsichtsbehörden. Wir können nicht einfach aus Beitragsgeldern Fitness-Apps zur Verfügung stellen. Das müsste aus anderen Geldquellen geschehen.

Roland Weber: Ich glaube, es spielt eine große Rolle in der GKV, dass sie aktuell nach §20 SGB V („Primäre Prävention und Gesundheitsförderung“) gezwungen ist, Versicherten für 7,52 € jährlich Präventionsmaßnahmen zur Verfügung zu stellen. Viele Kassen haben Schwierigkeiten auf diesen Betrag zu kommen. Und deshalb bietet man eine Vielzahl von Apps an, um anschließend dieses Budget erfüllen zu können. Und wenn das Gesetz geändert wird, dann macht man plötzlich was ganz anderes. Wir bieten nicht an, was der Gesetzgeber und der Gesundheitsminister gerade nach Lust und Laune gerne hätte.

Wie könnte denn eine Verstetigung der Dienstleistungs-Mentalität bei der Debeka aussehen?

Annabritta Biederbick: Wir haben z. B. mit der Süddeutschen Krankenversicherung ein Unternehmen gegründet, CareLutions mit Sitz in Stuttgart. Das soll nicht den Arzt ersetzen. Wir wollen auch nicht Digitalisierung der Digitalisierung wegen machen. Wir führen keine App ein, nur weil sie uns gut steht. Wir suchen nach gezielten Bausteinen für ein Programm.

Die Debeka ist Geber des VC-Fonds „Heal Capital“, in den insgesamt gut 100 Millionen € von gut 20 PKV-Unternehmen fließen. Was versprechen Sie sich von dem Projekt in den nächsten fünf Jahren?

Roland Weber: Wir wollen Innovationstreiber sein und hoffen natürlich, dass bei dem Projekt einiges für uns rumkommt, ein konkretes Startup haben wir uns aber bisher nicht ausgesucht. Wir gehen an das Projekt nicht politisch ran.

Mal etwas weiter in die Zukunft gedacht: Als Krankenversicherer sitzen sie auf jede Menge Gesundheitsdaten. Gab es denn schon mal die Idee, daraus mehr zu machen?

Annabritta Biederbick: Wir dürfen die Daten nur nutzen für den Zweck, für den sie uns gegeben worden sind. Wenn das für eine bessere Versorgung unserer Versicherten sein soll, dann müssen wir diesen Trend im Prinzip mitgehen. Aber mit dem Vertrauen, das unsere Versicherten uns entgegenbringen, müssen wir sehr sensibel umgehen. Im Rahmen der Gesundheitsdienstleistungen eines Krankenversicherers nutzen wir diese Daten auch schon, oft anonym, z. B. im Rahmen von Analysen oder Selektionen. Zum Beispiel um herauszufinden, wie groß der Bestand an Versicherten ist, die möglicherweise an Hepatitis C erkranken. Ich kann mir vorstellen, dass die Versicherten so etwas eines Tages von uns verlangen. Wir haben da allerdings sehr enge gesetzliche Vorgaben. Ein zweites Google werden wir also nicht. Aber es wäre denkbar, auf den Gesetzgeber hinzuwirken, z. B. durch die Darstellung bestimmter Use Cases, um zu zeigen, das sich damit auch vernünftige Dinge anstellen lassen und Leben gerettet werden können.

Roland Weber: Der Versicherte hat das Recht über seine Daten zu bestimmen. Was wir niemals machen werden, ist aus den Gesundheitsdaten unserer Mitglieder ein Geschäftsmodell zu machen. So wie in den USA. Dort ist es ja durchaus üblich, Gesundheitsdaten weiterzuverkaufen. Die Daten müssen Teil der Versichertengemeinschaft bleiben und gehören nicht nach draußen. Nur im Einzelfall und nach Einwilligung würden wir einen Versicherten informieren.

Ohne Vertrauen und Transparenz werden Versicherte die neuen digitalen Dienste wohl kaum nutzen. Müssen Krankenkassen hier einen Beitrag leisten?

Annabritta Biederbick: Unbedingt. Wir achten bei Apps in Versorgungsprogrammen darauf was passiert. Wohin gehen die Daten? Wo stehen die Server? In der EU außerhalb der EU? Transparenz ist ein Gebot des BDSG und der DSGVO.

Wie sieht eine erfolgreich digitalisierte Debeka also in 10 Jahren aus?

Roland Weber: Für die Versicherten wird es einfacher. Das Einreichen von Rechnungen wird komplett digital ablaufen. Bisher ist es ja noch so: Mitglieder bekommen eine Papierrechnungen vom Arzt, fotografieren sie, schicken uns das Foto, wir müssen versuchen die Daten herauszulesen und daraus die Erstattung machen. Obwohl die Daten ja eigentlich schon beim Arzt liegen. Wer werden Versicherten Informationen bereitstellen über die eigene Gesundheit und über mögliche Erkrankungen, nicht so wie über die Google-Suchmaschine, wo erstmal zwielichtige Selbsthilfegruppen erscheinen. Unsere Mitglieder bekommen qualitätsgesicherte Daten. Online-Sprechstunde und Online-Terminvereinbarung mit dem Arzt werden möglich sein. Wir werden unsere Versicherten rund um das Thema Gesundheit betreuen und ihnen viele Möglichkeiten zur Verfügung stellen, die das Leben angenehmer und sicherer machen.

Vielen Dank für das Gespräch.

zuletzt aktualisiert: 12.04.21, 12:08 Uhr

Was macht eigentlich ein Telenotarzt? (erschienen bei Healthcare Computing am 23.01.20)

Bild: umlaut telehealthcare GmbH

Nicht überall in Deutschland gibt es genügend Notärzte. Telenotfallmedizin soll helfen. Ein Gespräch mit dem Telenotarzt Dr. Frederik Hirsch über die Möglichkeiten und Grenzen der Behandlung aus der Ferne.

Herr Hirsch, wenn ich beim Wandern in der Eifel einen akuten Herzinfarkt erleide und der einzige zuständige Notarzt gerade unabkömmlich ist, können Sie mir dann helfen?
Ja, nach dem Eintreffen des Rettungswagens definitiv. Ein Telenotarzt kann prinzipiell alle Krankheiten versorgen. Dazu gehört auch der akute Herzinfarkt. Je nach den Veränderungen im EKG, das uns in Echtzeit übertragen wird, behandeln wir den Patienten mit den entsprechenden Medikamenten, die vom Rettungsdienst verabreicht werden. Beim Herzinfarkt unterscheiden wir z. B. – stark vereinfacht formuliert – zwischen einem leichten und einem schweren Herzinfarkt, und fordern bei einem schweren Fall noch einen Notarzt nach, weil ein solcher Infarkt mit weiteren Komplikationen behaftet sein kann.

Wie sieht denn der typische Einsatzverlauf unter telenotfallmedizinischer Betreuung aus?
Das Rettungswagenteam ruft uns an, übergibt den Patienten an uns, und erklärt uns die Situation vor Ort. Die Kommunikation läuft über ein Headset, das beide Parteien tragen. Währenddessen sehen wir auf einem Bildschirm die Vitaldaten des Patienten in Echtzeit, also Blutdruck, Herzfrequenz und Sauerstoffsättigung. Im Rettungswagen kommt dann noch ein Videobild hinzu. Nachdem wir eine Verdachtsdiagnose in die Dokumentation eingeben haben, bekommen wir einen Behandlungspfad angezeigt, der auf den Leitlinien verschiedener Ärztegesellschaften basiert. So haben wir quasi unseren Spickzettel immer vor Augen. Dann erarbeiten wir zusammen mit dem Team die Behandlungsstrategie und weisen die Medikamente an, die der Patient benötigt. Vorher fragen wir nochmal Allergien und Vorerkrankungen ab, sodass wir ein umfassendes Bild des Patienten haben, ohne ihn tatsächlich „in echt“ zu sehen. Auch die Voranmeldung bei einem geeigneten Krankenhaus übernehmen wir. Dann ist so ein Einsatz in der Regel abgeschlossen.

Sind nicht gerade bei Notfalleinsätzen besonders viel Intuition und alle fünf Sinne für die erste Einschätzung des Patienten und das Erkennen der Lage vor Ort gefragt?
Bei den ersten Gehversuchen mit dem System waren die ärztlichen Kollegen in der Tat erstmal skeptisch, ob das so funktionieren kann. Es gab durchaus Bedenken, dass die sensorischen Eindrücke, das Bauchgefühl, das erste Bild vom Patienten fehlen würde. Aber nach spätestens drei Einsätzen hat jeder Kollege hier ein Aha-Erlebnis und denkt sich: Das funktioniert ja doch! Das System lebt von der Sprache, von der Kommunikation zwischen Team und Arzt. Wir haben auch spezielle Kommunikationsstrukturen für das System entwickelt. Wir unterhalten uns ein bisschen wie Piloten, d. h. wir achten darauf, dass wir die wichtigen Informationen zuerst rüberbringen und reden in kurzen knappen Kommandos. Das hat nichts mit Unfreundlichkeit zu tun. Sie können auch schon anhand der Art des Gesprächs mit dem Rettungsteam vor Ort einschätzen, wie es um einen Patienten bestellt ist. Der Telenotarzt kann sich so schnell in die Situation einfinden, auch deshalb, weil er selbst schon als normaler Notarzt gearbeitet hat. In den meisten Fällen sind Telenotfallmediziner auch nicht reine Telenotfallmediziner, sondern zusätzlich Anästhesisten und fahrende Notärzte. Wir schicken unsere Telenotärzte zudem durch ein Assessment, damit wir sicher sein können, dass sie solche Situationen erfassen und sinnvoll führen können.

Ob Sie zum Einsatz kommen entscheidet immer das Rettungsteam vor Ort und nicht die Leitstelle, habe ich das richtig verstanden?
Sie müssen sich das so vorstellen: Ein Anruf geht bei der 112 ein, weil jemand z. B. Brustschmerzen hat. Die Disponenten in der Leitstelle entsenden dann ein Fahrzeug, das materiell und personell so ausgestattet ist, wie es ihrer Einschätzung des medizinischen Vorfalls entspricht. Wenn die Situation lebensbedrohlich erscheint, schickt die Leitstelle zusätzlich einen Notarzt oder ordert ihn hinzu. Stichwort: Rendezvous-System (Anmerkung des Autors: Nach diesem Prinzip begeben sich Rettungswagen und Notarzt getrennt zum Einsatzort. So können medizinische Einsatzkräfte über regional verteilte Einsatzstellen effizienter delegiert werden). Dieses Prinzip haben wir grundsätzlich nicht verändert. Wir kommen immer dann zum Einsatz, wenn ein Rettungswagen ohne Arzt an der Einsatzstelle ist, sich aber jetzt herausstellt, dass ein Medikament gegeben werden muss oder dass das Wissen des Arztes gefragt ist, aber nicht zwingend sein manuelles Können. Die Entscheidung, uns anzurufen, liegt also tatsächlich beim Team vor Ort. Mit nur einem Knopfdruck können sie uns erreichen und haben unmittelbar den Arzt im Ohr. Das ist der deutlich kürzere Weg als den Notarzt zur Einsatzstelle nachzufordern. Selbst wenn dies dann noch erforderlich wäre, z. B. weil wir aus der Ferne feststellen, dass es sich um einen lebensbedrohlichen Fall handelt, können wir derweil sinnvoll die Zeit mit dem Team vor Ort gemeinsam überbrücken. Zum Beispiel, indem wir die Gabe von Medikamenten oder das Ergreifens anderer Maßnahmen anleiten. Wenn der Notarzt dann eintrifft, ist der Patient zumindest einmal grundlegend versorgt.

Also ist es kein Problem, wenn sich der Gesundheitszustand eines Patienten vor Ort unvorhergesehen rapide verschlechtert und erstmal „nur“ ein Telenotarzt zugeschaltet ist?
Wir können in einer solchen Situation natürlich nicht selbst manuell eingreifen. Allerdings bekommen wir natürlich sofort mit, wenn sich etwas akut dramatisch verändert. Wir haben immer die Möglichkeit, einen herkömmlichen Notarzt nachzufordern. Es entsteht aber nicht die Situation, dass das Rettungsteam vor Ort in der Zwischenzeit nichts machen kann. Diese Situation können wir mit dem System deutlich verbessern, indem wir das Team und den Einsatz durch unser Gespräch leiten. Dadurch, dass wir nicht an der Einsatzstelle sind, stehen wir außerdem nicht unter Stress. Wir können relativ gelassen die Situation von außen steuern. Selbst wenn eine Situation sich so rasch verschlimmert, dass ein Patient wiederbelebt werden muss, gibt es dafür einen Algorithmus mit klaren Vorgaben zur Wiederbelebung. Wer macht wann was? Wir hatten bisher keinen Fall, bei dem ein Patient zu Schaden gekommen wäre, weil „nur“ ein Telenotarzt zugegen war.

Welche Fälle sind am häufigsten?
Am häufigsten werden wir zur Unterstützung einer Schmerztherapie bei akuten Verletzungen in Anspruch genommen, z. B. beim klassischen Oberschenkelhalsbruch nach einem Sturz, oder bei Sportverletzungen. Danach folgen nicht traumatisch bedingte Schmerzereignisse wie Gallen- oder Nierenschmerzen, dann Schlaganfälle und akute Herzerkrankungen. Wir begleiten auch Transportfahrten von einem Krankenhaus ins nächste. In bestimmten Fällen muss eigentlich immer ein Mediziner mit im Rettungswagen sitzen. Diese Fälle lassen sich aber oft auch sehr gut telemedizinisch abbilden, weil es dem Patienten doch relativ gut geht, er aber ärztlich überwacht werden muss. Das ist das zweite Standbein im Arbeitsalltag.

Werden Telenotärzte speziell ausgebildet?
Als Grundqualifikation müssen Ärzte, die Telenotarzt werden wollen, mindestens zwei Jahre als Notarzt im Rettungsdienst gearbeitet und in dieser Zeit mindestens 500 Einsätze absolviert haben. Zudem müssen sie noch weitere Zusatzqualifikationen mitbringen. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, werden sie von uns in einer einwöchigen Schulung im Umgang mit dem Telenotarztsystem geschult. Wir unterrichten die technischen Aspekte, vor allem aber auch die Kommunikationsstrukturen und die Besonderheiten eines Tele-Einsatzes. Wir simulieren Einsätze und streuen bewusst Fehler ein, um das Fehlermanagement in kritischen Situationen zu testen. Danach werden die angehenden Telenotärzte unter der Supervision eines erfahrenen Telenotarztes durch reale Einsätze geführt.

Erhalten auch die Sanitäter eine Einweisung?
Ja, wir schulen auch das Rettungspersonal. Wir bieten achtstündige Kurse an, in denen es um die Handhabung des Systems geht. Aber eigentlich müssen wir da gar nicht so viel erklären. Man muss als Rettungssanitäter praktisch nur einen Kopf drücken und dann wird das Gespräch aufgebaut und die Daten des Patienten werden vollautomatisch übertragen. Das System funktioniert so einfach und intuitiv, dass man seinen Arbeitsablauf überhaupt nicht unterbrechen muss. Aber es ist schon so, dass wir die Teams im Vorfeld schulen müssen, was die Kommunikationsstrukturen angeht. Stehe ich als Notarzt mit einem Team vor Ort, wird auch viel über Körpersprache vermittelt. Das ist in so einem Einsatz natürlich anders. Wenn ich vor Ort sehe, dass ein Patient in einem Straßengraben liegt, dann muss mir das keiner mehr sagen. Oder wenn viele Menschen um den Einsatzort drum herumstehen. Bei einem Telenotfalleinsatz müssen auch einfache Sache geschildert werden.

Welche technischen Geräte kommen für die Video- und Datenübertragung zum Einsatz? Und wie gehen Sie mit technischen Schwierigkeiten um, z. B. mit Funklöchern während der Fahrt?
Unsere Hardware ist eine Eigenentwicklung. Wir verwenden eine spezielle Kommunikationsbox (peeqBox®), die an das portable EKG-Gerät montiert ist. Diese Box überträgt Daten über alle zur Verfügung stehenden deutschen Mobilfunkbetreiber (Vodafone, Telekom, O2). Funklöcher sind für uns prinzipiell eigentlich nicht so das Problem. Nur während der Fahrt kann der Empfang machmal Schwierigkeiten bereiten. Deshalb rüsten wir die Rettungswagen mit entsprechenden Dachantennen aus. In den entlegensten Regionen kann es aber schon mal vorkommen, dass es mit dem Empfang hapert, weil es dort keine Funkmasten gibt. Dort funktioniert das System dann auch nicht. Aber es gibt nur sehr wenige dieser Orte.

Patienten müssen der Behandlung durch einen Telenotarzt zustimmen. Ist es schon mal vorgekommen, dass ein Patient die Behandlung abgelehnt hat? Was tun Sie dann?
Das gab es, aber sehr selten. In 8 von 10.000 Fällen hat ein Patient nein gesagt. Die Aufklärung wird in einer Notfallsituation sehr kurz gehalten, das ist auch juristisch in Ordnung so. Das Team sagt einfach: „Wir rufen jetzt einen Arzt an, der hilft uns bei Ihrer Behandlung. Sind Sie damit einverstanden? Ja oder nein?“. Die Patienten möchten eigentlich nur, dass Ihnen geholfen wird. Nur sehr, sehr selten sagt jemand so etwas wie: „Nein, das ist mir unheimlich, ich möchte mit einem richtigen Arzt sprechen“.

Inwiefern wird ihre Arbeit durch das Fernbehandlungsverbot für Ärzte eingeschränkt? Eine Patientenversorgung ausschließlich über Telekommunikationsmedien war lange Zeit unzulässig, auch wenn viele Landesärztekammern das Verbot inzwischen aufgeweicht haben …
Diese Frage haben wir uns zu Beginn der Entwicklung des Konzepts auch gestellt. Es ist jedoch so, dass wir zu keinem Zeitpunkt dem Fernbehandlungsverbot wirklich unterlagen. Wir haben Fachpersonal vor Ort, und wir sehen alles, was für die ärztliche Behandlung entscheidend ist. Selbst wenn wir den Patienten nicht real vor Augen haben, können wir auf das qualifizierte Gespräch mit qualifiziertem Personal vor Ort zurückgreifen. Hinzu kommt die Übertragung der Vitaldaten in Echtzeit. Bereits in der Forschungsphase haben wir uns durch mehrere Rechtsgutachten abgesichert. Juristisch sind wir zu behandeln wie ein Notarzt, der vor Ort wäre, egal um welche Fragestellung es sich erstmal handelt. Auch für die neue DSGVO der EU haben wir ein entsprechendes Datenschutzkonzept erarbeitet.

Ist das Telenotarztsystem nur eine Verlegenheitslösung für den Ärztemangel, um Geld zu sparen?
Nein, auf keinen Fall. Wir haben das auch bereits wissenschaftlich belegt, dass die Versorgung durch den Telenotarzt nicht schlechter wird. Er soll und wird auch nicht den klassischen Notarzt ersetzen, weil sie für schwere Erkrankungen doch noch das manuelle Geschick brauchen. Wir haben allerdings festgestellt, dass das Wissen des Notarztes oftmals entscheidend ist und das Rettungsdienstpersonal notfalls das Manuelle übernehmen kann. Das Telenotarztsystem ist ganz klar eine Ergänzung.

Verändern sich durch das Telenotfallsystem Rettungseinsätze noch auf andere Weise?
Primär wollten wir eigentlich nur den Rettungseinsatz selbst betreuen. Die Idee der telemedizinisch begleiteten Verlegungen ist in der Rettungsleitstelle selbst aufgekommen. Aber auch die medizinische Beratung der Leitstellenmitarbeiter ist hinzugekommen. Das sind natürlich keine Mediziner, d. h. die Menschen, die dort arbeiten, können nicht immer hundertprozentig einschätzen, was wirklich gebraucht wird. Wir können bei einem Anruf der 112 jetzt grundsätzlich mitentscheiden, was passieren muss, im Sinne einer Hilfestellung für die Disponenten. Es gab mal einen Fall, da hat eine Patientin ihre Früh- und Spät-Medikation verwechselt. Der Leitstellenmitarbeiter fragte sich: Muss ich da einen Rettungswagen hinschicken oder nicht? Er ist auf uns zugekommen, und wir haben dann mit dem Patienten gesprochen und so einen unnötigen Rettungseinsatz verhindert. Es sind also auch in der Leitstelle neue Synergien entstanden.

Die deutlichste Auswirkung ist allerdings, dass die nicht-ärztlichen Mitarbeiter, also die Notfallsanitäter und die Rettungsassistenten, viel eigenständiger geworden sind, weil wir als Telenotärzte darauf angewiesen sind, dass wir eine adäquate Übergabe bekommen und sie uns die Situation vor Ort genau schildern. Dazu müssen sie einschätzen können, welche akuten Beschwerden der Patient hat. Dadurch werden die Rettungskräfte vor Ort deutlich selbstständiger. Wir haben als fahrende Notärzte festgestellt, dass im Alltag die Behandlung besser von der Hand geht, weil die Rettungskräfte jetzt viel mehr Übung bei der eigenständigen Versorgung der Patienten haben.

Herr Hirsch, vielen Dank für das Gespräch.

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„Wir gestalten die Systeme so, dass sie dem Arzt nicht vorgeben, was er machen muss“ (erschienen bei Healthcare Computing am 15.01.20)

Bild: ICCAS

Der intelligente Operationssaal der Zukunft soll Ärzte dort unterstützten, wo sie am meisten von intelligenter Technologie profitieren. Ein Gespräch mit Prof. Dr. Thomas Neumuth vom Innovation Center Computer Assisted Surgery der Universität Leipzig über schlaue Geräte, die über Leben und Tod mitentscheiden.

Herr Neumuth, wie smart sollte es in einem OP-Saal zugehen?
Die Entwicklung wird momentan so vorangetrieben, dass die Technologie erkennt, was ein Arzt machen möchte, um ihn dabei optimal zu unterstützen. Wir reden nicht von Robotern, die selbstständige Entscheidungen treffen, wir reden über Szenarien, in denen der Arzt weiterhin die volle Kontrolle hat und selbst entscheidet, aber sich die Tools ändern. Der Arzt schneidet zum Beispiel nicht mehr mit einem Skalpell, sondern er benutzt einen Telemanipulator. Das sind keine Roboter, die selbstständige Programmabläufe durchführen wie in der Industrie. Landläufig werden sie aber halt doch Roboter genannt. Dabei steuert der Arzt mit einem Controller in der Hand aus der Ferne die einzelnen Arme des Telemanipulators. Das ist ein bisschen wie beim Spielen mit der Playstation.

Welche Vorteile hat das für Arzt und Patient?
Das Arbeiten wird viel präziser. Ein Arzt, der mit seinem Skalpell schneidet, kann dabei nur eine bestimmte räumliche Auflösung erreichen. Wenn Sie mal einen Stift zur Hand nehmen und damit einen geraden Strich ziehen, dann wird der Strich auf ein, zwei Millimeter vielleicht relativ gerade ausfallen, er hat aber auch eine gewisse Dicke. Mit einem Roboter können Sie das viel präziser einstellen und einen solchen Strich im Submillimeterbereich ziehen. Dabei können Sie auch die zu bearbeitende Struktur heranzoomen. Die Bewegungen des Chirurgen werden vom Roboter millimetergenau übersetzt. Auch das allgemeine Zittern in den Händen wird durch die Technik kompensiert. Das funktioniert so ähnlich wie bei einer kardanischen Aufhängung, einem Gimbal, zum Ausgleichen von Verwacklungen bei Bildaufnahmen mit dem Handy. Das System rechnet die unbeabsichtigten Bewegungen des Chirurgen einfach raus.

Und die Nachteile?
Ein Nachteil eines solchen Systems ist der große Platzbedarf. Es sind Motoren im Einsatz, das System muss stabil stehen und dazu brauchen Sie zum Beispiel einen großen Standfuß. Die Systeme verfügen zudem über mindestens drei Arme. Zwei Arme halten die Instrumente, der dritte die Kamera. Bei einem Da-Vinci-Operationssystem kommen sogar vier Arme zum Einsatz. Die Arme müssen so koordiniert werden, dass Sie mit ihrer Spitze im OP-Gebiet arbeiten können. Der Platzbedarf ist ein grundlegender Faktor für den Einsatz dieser Systeme.

Wo werden solche Systeme derzeit in erster Linie eingesetzt?
In der Urologie sind diese Systeme schon weit verbreitet. Da sind die Operationsergebnisse mindestens gleichwertig zu den Ergebnissen der Chirurgen, insbesondere was Präzision und Geschwindigkeit angeht. Ein Großteil der Entwicklungen hat die Phase der wissenschaftlichen Forschung verlassen und die Technologien werden am Patienten eingesetzt. Derzeit sind weltweit mehrere tausend Systeme im Einsatz, insbesondere in den USA.

Welche konkreten Szenarien erproben Sie an Ihrem Institut?
Bei uns im Institut setzen wir auf die Vernetzung verschiedener Geräte. Aus der Kombination der Einzelsignale, die von den Geräten kommen, erkennt das System die Situation. Zum Beispiel wird – vereinfacht formuliert – bei einem Endoskop die Position im Raum verfolgt. Sobald sich das Gerät in der Nähe des ebenfalls technisch überwachten Patienten befindet, schaltet sich das Endoskop ein. Ein Endoskop in der Nähe des Patienten ist also für uns ein guter Hinweis darauf, dass es gleich benutzt wird.

Oder das OP-Besteck wird auf einer Waage gelagert. Weil die Instrumente unterschiedlich groß und schwer sind, lässt sich daraus ableiten, dass zum Beispiel gerade das Skalpell verwendet wird. Und weil bestimmte Instrumente nur für einen bestimmten Arbeitsschritt eingesetzt werden, weiß man dann schon relativ genau, wo sich der Chirurg innerhalb des Arbeitsflusses befindet.

Beim Fräsen oder Absaugen lassen sich auch Daten von den Geräten abgreifen, zum Beispiel Drücke oder Drehzahlen. Wir verfolgen auch die Instrumente und die Blickrichtung des Chirurgen, um zu erfassen, wo seine Aufmerksamkeit liegt. Aus der intelligenten Kombination der Einzelinformationen kann man dann auf den Arbeitsschritt schließen. Dabei gilt für uns immer: Wir gestalten die Systeme so, dass sie dem Arzt nicht vorgeben, was er machen muss.

Das ist wie bei einem GPS-System im Auto. Das erkennt, wo Sie gerade sind und spielt Ihnen Informationen zu, schreibt ihnen aber nicht vor, auf welcher Straße Sie zu fahren haben. Der Chirurg trifft seine Entscheidungen auf der Basis seines klinischen Wissens und das System folgt ihm.

Welcher Aspekt der Digitalisierung kommt einem Chirurgen im OP dabei besonders zugute?
Wir bezeichnen das Feld als Workflow-Management. Workflow ist der Arbeitsfluss des Arztes am Patienten. Management bedeutet, dass wir diesen Arbeitsfluss unterstützen. Das Praktizieren von Medizin ist heute ja ohne Technologie gar nicht mehr möglich, egal ob Sie operieren, überwachen oder auch einfach nur dokumentieren.

Die verwendeten Systeme sind aber alle spezialisiert für einzelne Funktionen und für einzelne Arbeitsschritte. Darunter fallen zum Beispiel Sicherheits- und Lokalisierungssysteme, die dem Arzt oder der Ärztin sagen, wo er oder sie sich gerade innerhalb des Patientenkörpers befindet oder ihn oder sie darauf aufmerksam macht, dass möglicherweise Gefäße oder Nervenbahnen verletzt werden können. Das hat dazu geführt, dass in einem OP-Saal inzwischen sehr viel Technik rumsteht, diese Systeme aber nicht miteinander integriert sind. Wenn ein Arzt diese Systeme verwenden will, muss er sie entsprechend vor- und nachbereiten. Die Vorbereitung der Systeme hat mittlerweile einen so hohen Anteil am Workflow des Arztes, dass es unserer Meinung nach sinnvoll ist, die Technologie so intelligent zu machen, dass die Technologie automatisch vorbereitet wird, dadurch die Vorbereitungszeit durch die Mitarbeiter wegfällt und der Arzt sich auf seine wertschöpfenden Arbeitsschritte konzentrieren kann.

Und Vernetzung ist dabei das zentrale Problem?
Ja, die Chirurgen können nicht selbst direkt über ein Netzwerk auf die notwendigen Geräte zugreifen, weil die Geräte von unterschiedlichen Herstellern stammen, nicht „dieselbe Sprache“ sprechen und somit nicht untereinander kommunizieren können. Weil das so ist, können wir dem Chirurgen auch kein Gerät anbieten, von dem er aus zentral alles selbst regeln kann, zum Beispiel über einen sterilen Touchscreen, mit dem er in der einen Situation Gerät A steuert und im nächsten Schritt Gerät B. So etwas funktioniert noch nicht, da die notwendige Interoperabilität fehlt. Im OP kann eine effiziente Bedienung auch eine Frage der Sterilität sein.

Sie haben ein Eye-Tracking-System mitentwickelt, dass dieses Problem vorläufig lösen soll …
Ja, ein solches System ist eine Möglichkeit die Distanz wischen Chirurg und Gerät zu überbrücken. Sie könnten zum Beispiel auch eine Spracherkennung einbauen, damit der Chirurg verbal seine Einstellungen steuern kann. Allerdings ist es in einem OP oft ziemlich laut, auch weil dort viele Menschen arbeiten, das funktioniert nicht wirklich gut. Deswegen haben wir ein System entwickelt, bei dem der Chirurg durch die rein visuelle Fokussierung eines Bedienelements auf einem Display zum Beispiel technische Parameter anpassen kann.

Was sind die besonderen Anforderungen an die Sicherheit von Computersystemen in medizinischen Umgebungen, zumal in einem so sensiblen Umfeld wie einem Operationssaal?
Das Worst-Case-Szenario der Medizin ist, dass eine Nachricht, die von einem System zu einem anderen System geschickt wird, unterwegs verändert wird – ob bewusst oder unbewusst. Es kommt nicht das an, was abgeschickt wurde. Stellen Sie sich vor, der Blutdruck eines Patienten wird überwacht und es kommt nicht der richtige Wert an.

Zweiter wichtiger Punkt ist, dass eine Nachricht, die ein System empfängt, auch richtig verstanden wird. Leider fehlen oft noch die technischen Standards. In einzelnen Bereichen gibt es bereits herstellerübergreifende Standards, etwa den DICOM-Standard zur Übertragung und Speicherung radiologischer Bilddaten. Ein CT-Bild, das beispielsweise mit einem Siemens-Computertomographen aufgenommen wurde, verfügt auf der Arbeitsstation eines anderen Herstellers, auf der es vom Radiologen begutachtet wird, über exakt dieselben Grauwerte. Eine Struktur oder Läsion, auf die der Radiologe achten muss, ist mit einer Veränderung der Grauwerte verbunden. Da wäre es natürlich fatal, wenn auf dem Monitor farblich etwas anderes dargestellt wird, als es dem eigentlichen Messwert entspricht. Dafür gibt es einen Standard.

Wo beginnt eigentlich die computergestützte Chirurgie? Erst am OP-Tisch oder auch schon bei der Vor- und Nachbereitung einer Operation?
Auch für Vor- und Nachbereitung der OP gibt es Systeme. In der Neurochirurgie ist es beispielsweise wichtig, den richtigen Zugangsweg zu wählen, beispielsweise um zum Tumor in der Mitte des Gehirns zu gelangen. Das ist keine spontane Entscheidung des Arztes, wenn der Schädel schon offen ist, sondern eine Frage der Planung. Wie lassen sich Schäden vermeiden? Wo entsteht der geringste Schaden, wenn es nicht anders geht? Dazu nimmt man radiologische Bilder als Grundlage und berechnet daraus dreidimensionale Modelle, zum Beispiel durch 3D-Volumen-Rekonstruktion. Den entsprechenden Hirnregionen werden dann die spezifischen Funktionalitäten wie Sprache, Erinnerung, Motorik usw. zugeordnet.

Und nach der OP?
Postoperativ spielt – vermeintlich banal – die Dokumentation eine große Rolle, als Grundlage für die Abrechnung. Wie lange hat die OP gedauert? Gab es Probleme? Die Dokumentation ist vielen Chirurgen ein Dorn im Auge. Wenn wir Chirurgen fragen, was an ihrem Arbeitsablauf im OP besser werden soll, dann wird fast immer zuerst die Dokumentation genannt.

Nach dem Stand der Technik wäre das auch eigentlich nicht mehr notwendig. Wären alle Systeme vernetzt, könnte die Dokumentation automatisch im Hintergrund ablaufen. Aus der Tatsache, wann welches System verwendet wird, kann eine KI zum Beispiel ableiten, welcher Arbeitsschritt gerade läuft. Dann wird im Hintergrund einfach das Protokoll geschrieben. Am Ende der OP müsste der Chirurg dann nur nochmal kurz auf das Protokoll schauen und unterschreiben. Fertig. Das wird sich definitiv ändern. Auch weil viele Chirurgen die Dokumentation erst am Ende eines langen Arbeitstags erledigen. Die Detailtiefe ist da mitunter verbesserungswürdig.

Besteht die Gefahr, dass sich Operateure zu sehr auf die Technik verlassen?
Ganz grundsätzlich ist das ein Problem, allerdings lässt sich mit verschiedenen Strategien gegensteuern, zum Beispiel präoperativ, indem einem System gesagt wird, dass an einer bestimmten Stelle in keinem Fall geschnitten werden darf, das System eine Position also gar nicht erst ansteuert. Oder, falls ein System doch mal etwas tut, was es eigentlich nicht tun soll, der Arzt einen „roten Knopf“ drücken kann, der das System komplett ausschaltet und der Chirurg von Hand weiter machen kann.

Der OP-Saal der Zukunft in 10 Jahren sieht also wie aus?
Das Computersystem um den Chirurgen ist so intelligent, dass es erkennt, was der Arzt gerade macht und was er als Nächstes tun will. Der Arzt operiert, ohne irgendwelche Knöpfe zu drücken, ohne irgendwelche Geräte ein- oder auszuschalten. Die Technologie liefert ihm alle Informationen genau zum richtigen Zeitpunkt. Der Arzt folgt seinem Arbeitsfluss, ohne dass er irgendwelche abweichenden Tätigkeiten machen muss.

Herr Neumuth, vielen Dank für das Gespräch.

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Wenn der Doktor Apps verschreibt (erschienen in EHealthCom 06/2019)

Bild: Barmer

Die App auf Rezept steht dank dem Digitale Versorgung Gesetz (DVG) kurz vor der Tür. Wie wird mit dem Einzug der digitalen Helfer das Verhältnis von Arzt und Patient in Zukunft aussehen? Und welche Folgen hat das für unser Gesundheitssystem? Ein Gespräch mit Dr. Regina Vetters, Leiterin digitale Produktentwicklung (Barmer.i) bei der Barmer.

Frau Vetters, Sie haben ein Pilotprojekt ins Leben gerufen, in dem Hausärzte in der Region Cottbus Gesundheits-Apps empfehlen.
Genau, und die Idee kommt gut an. Mittlerweile nehmen bereits gut 200 Hausärzte teil. Das Projekt wurde inzwischen um die Bundesländer Berlin, Brandenburg, Thüringen und die Region rund um Darmstadt erweitert.

Zwölf Apps wurden in das Programm aufgenommen, mit dem Behandlungsspektrum Rückenschmerzen, chronische und allgemeine Schmerzen, Stress, Diabetes, Ernährung, Schwindel, Reiseschutz und Hausmittel. Nach welchen Kriterien haben Sie eine Entscheidung getroffen?
Das sind alles Themenfelder, die sich die Ärzte selbst ausgesucht haben. Wir haben zuvor mit vielen Ärzten Gespräche geführt, um herauszufinden, was sie wirklich brauchen. Daraus konnten wir die Themenfelder ermitteln, die die Ärzte in der Praxis am meisten unterstützen. Es gab noch weitere Vorschläge, von denen wir uns vorstellen können, unser Programm entsprechend zu erweitern. Denkbar wären zum Beispiel Apps für das Nichtraucher-Training oder Apps für junge Eltern. Aber das ist jetzt erst einmal unser Startportfolio für das Hausärzteprojekt.

Was ist das genaue Ziel des Projekts?
Wir wollen eine Brücke schlagen, denn es gibt nach wie vor zwei Welten, die nicht immer richtig zusammenpassen. Ich meine die traditionelle Versorgung auf der einen und das digitale Angebot auf der anderen. Zu uns kommen Start-ups mit tollen digitalen Produkten. Doch das reicht nicht. Es müssen entscheidende Fragen geklärt werden. Habt ihr schon einmal mit einem Arzt über euer Produkt gesprochen? Passt das eigentlich in einen Behandlungspfad? Zu uns kommen auch Vertreter von Krankenhäusern und andere Leistungserbringer mit selbst entwickelten Apps. Doch hier stellen sich die Fragen der Bedienbarkeit. Will der Patient das wirklich nutzen? Nach meiner Erfahrung zeigt sich häufig, dass jeder nur sein Feld im Blick hat. Als Barmer können wir da viel Know-how einbringen und diese Welten zusammenführen. Lassen Sie mich kurz erklären, warum uns das so wichtig ist. Wir haben festgestellt, dass Patienten mit chronischen Erkrankungen Gesundheits-Apps viel adhärenter nutzen, wenn der Gebrauch durch den Hausarzt unterstützt wird. Das ist die erste vorsichtige Evidenz bei der Nutzung von Digitalprodukten.

Aufgrund dieser Erfahrung ist es wichtig, die Ärzteseite noch mehr einzubeziehen. Bei den meisten Ärzten schlägt das Thema ohnehin auf. Die Patienten bringen Fragen zu bestimmten Gesundheits-Apps mit in die Praxis, aber die Ärzte fühlen sich häufig unsicher. Welche Apps soll ich denn empfehlen? Ich weiß gar nicht, was gut und was schlecht ist, dabei würde ich mich gerne mit meinen Patienten darüber unterhalten können! Die Ärzte wünschen sich also mehr Informationen. Weil wir in den letzten Jahren mit gut 500 Start-ups gesprochen und gelernt haben, die Spreu vom Weizen zu trennen, können wir helfen und diese Brücke schlagen.

Allzu viele Widerstände hatten Sie also nicht zu überwinden …
Unsere Anfangshypothese war, dass die Ärzte erstmal skeptisch sind. Natürlich gibt es auch Ärzte, die sagen: Gesundheits-Apps sind nichts für mich. Aber wir wurden positiv überrascht. Die meisten waren dem Thema gegenüber sehr aufgeschlossen. Es gab eher eine Unsicherheit im Umgang mit Gesundheits-Apps, die sie hat skeptisch werden lassen. Aber das hat sich nach dem Ausprobieren gegeben, so dass die Rückmeldungen später dann oft auch sehr positiv waren. Viele fanden die Apps einfach und verständlich und fühlten sich dann auch sicher genug, sie Ihren Patienten zu erklären.

Von wem geht die Initiative zur Nutzung von Gesundheits-Apps denn in Regel aus?
Wir haben als Barmer zwei Dutzend Versorgungs-Apps, die wir anbieten. Diese werden sehr unterschiedlich genutzt. Manche im großen Stil, andere eher zurückhaltend. Das hängt von der Zielgruppe ab, manchmal auch von der Indikation. Aber Apps sind bei vielen Menschen schon eine selbstverständliche Beschäftigung. Allerdings sind das in erster Linie noch Fitness- oder Bewegungs-Tracker, indem sie zum Beispiel die täglich zurückgelegten Schritte zählen oder den Herzrhythmus erfassen. Damit kann der Arzt zunächst einmal nichts anfangen. Es braucht einen klaren Fokus bei der Nutzung von Apps.

Der da wäre?
Unsere beliebtesten Apps im Projekt sind zwei Apps zum Training gegen Rückenschmerzen. Wenn ein Patient mit Rückenproblemen Tipps vom Arzt gegen seine Beschwerden haben möchte, muss dieser erstmal ein oder zwei Übungen erklären. Das kann er aber in der Regel in den acht Minuten, die er für ein Patientengespräch hat, nicht intensiv machen. Dank der Rücken-Apps kann er jetzt sagen: Hier können Sie sich die Übungen nochmal genauer ansehen. Früher gab es dafür einen Zettel. Die App kann es jedoch viel intensiver zeigen und Informationen zu Entspannungsübungen und zur häufig stressbedingten Entstehung von Rückenschmerz liefern. Die App ist die verlängerte Erklärung des Arztes, die man mit nach Hause nehmen kann. Es kommt ja immer wieder vor, dass ein Arzt etwas erklärt, und wenn der Patient zu Hause angekommen ist, weiß er nur noch eine der drei Übungen.

Die App erhält also durch die Einbettung in ein medizinisches Versorgungskonzept einen zusätzlichen Mehrwert …
So ist es, und das führt auch dazu, dass die Patienten die Apps länger benutzen. Es gibt natürlich Menschen, die das auch ohne ärztliche Betreuung machen. Die Apps kann sich ja jeder einfach runterladen. Aber wir sehen in diesen Fällen häufig, dass deren Nutzung nach sechs Wochen wieder weniger wird. Das ist vergleichbar mit dem Phänomen, dass viele zum Jahreswechsel ins Fitnessstudio gehen, fest entschlossen, regelmäßig zu trainieren, aber die Motivation spätestens im März wieder nachlässt. Dann ist das Fitnessstudio wieder deutlich leerer. Das gibt es bei Gesundheits-Apps natürlich auch. Doch ein Arzt ist hier eine wichtige Kontrollinstanz. Beim nächsten Besuch fragt er konkret nach den bereits erzielten Erfolgen. Die Kombination aus normaler Therapie und digitaler Unterstützung ist häufig sehr viel stärker als das reine Produkt.

Sehen Sie Fitness-Apps und -Tracker als Einstieg in die Welt der Gesundheits-Apps?
Fitness-Tracker an sich sind keine medizinischen Produkte, sondern nur eine Art, sich überhaupt mit dem Thema Gesundheit zu beschäftigen. Bei den Trackern geht es in erster Linie um das Festlegen der Anzahl der Schritte, die man pro Tag zurücklegen möchte. Das ist aber nicht die Art von Produkt, die wir vergüten und die wir in unserem Portfolio haben. Hinter der Rückschmerz-App KAIA stehen zum Beispiel richtige Mediziner. Es handelt sich dabei um eine Übertragung eines auch in der analogen Welt existierenden Konzepts zur Bekämpfung von Rückenschmerzen. Zentral war die Frage: „Was will der Hausarzt?“ Schwindel und Hausmittel sind in den Praxen zum Beispiel häufig Thema, da haben die Hausärzte explizit nach Unterstützung gefragt.

Vielen Herstellern von Gesundheits-Apps wird ein unseriöser Umgang mit den sehr sensiblen Gesundheitsdaten vorgeworfen. Wie stehen Sie dazu?
Datenschutz und Datensicherheit sind immer ein ganz zentrales Thema. Unsere Anforderungen daran sind sehr hoch. Erst wenn alle Fragen dazu mit den Herstellern entsprechend geklärt sind, können wir die Apps vergüten. Dazu gehören Fragen wie: Gibt es ein Datenschutzsiegel? War der Datenschutzbeauftragte eingebunden? Wo werden die Daten gespeichert?

Sind Sie mit den aktuellen Formulierungen im Digitale Versorgung Gesetz im Großen und Ganzen glücklich? Bei Preisfindung und Evidenzkriterien wurden die Zügel für die Hersteller ja gelockert, um Innovation zu befördern …

Generell begrüßen wir das Digitale Versorgung Gesetz (DVG), weil der Gesetzgeber hier einen Weg für Innovationen schafft, den es bislang so nicht gibt. Die bisherigen Wege in die Regelversorgung werden den digitalen Produkten so nicht gerecht. Unsere eigenen Vergütungsmöglichkeiten sind sehr begrenzt, und nach SGB V lässt sich meist schlecht argumentieren, um eine Gesundheits-App zu bezahlen. Das DVG öffnet ein Fenster für Innovation und gibt digitalen Produkten eine breitere Bühne. Das ist aber noch nicht der Stein der Weisen. Wir werden das in den nächsten Jahren eng begleiten. Idealerweise werden die Evidenzanforderungen nachträglich wieder hochgezogen. Wenn die Apps erprobt wurden, gibt es eigentlich keinen Grund, längerfristig niedrigere Evidenzkriterien als für pharmazeutische oder medizinische Produkte anzulegen. Nur kommen die Apps eben aus kleinen Unternehmen, die nicht durch drei verschiedene Phasen klinischer Studien gehen können. Die Produkte haben viel kürzere Lebens- und Entwicklungszyklen. Man wird sich dann auch überlegen müssen, wie man mit Nachahmerprodukten umgeht.

Ist die digitale Erwartungshaltung an Gesundheit eine Betreuung rund um die Uhr?
Schon heute gibt es Formen des Telemonitorings, beispielsweise, um kritische Gesundheitszustände in der Entstehung zu erkennen und zu vermeiden. Wir haben eine zehnjährige Studie mit der Charité zu Herzpatienten gemacht und festgestellt, dass eine digitale Rund-um-die-Uhr-Betreuung medizinisch sinnvoll ist, wenn die Patienten stark eingeschränkt sind. Hier ist es gut, ihren Gesundheitszustand mittels Telemonitoring dauerhaft zu kontrollieren und im Bedarfsfall umgehend reagieren zu können.

Bedarf es ein zusätzliches Maß an Aufklärung über digitale Medizinprodukte?
Die Digitalkompetenz muss natürlich auch im medizinischen Bereich zunehmen, und zwar an verschiedenen Stellen. Zunächst einmal gilt es, die Anwender digitaler Medizinprodukte zu informieren. Das sind in erster Linie nicht die technikaffinen Millennials, sondern eher ältere Menschen. Bei diesen besteht natürlich eine Unsicherheit. An dieser Stelle besitzt das DVG auch eine Stärke, weil es besagt, dass die App vom Arzt verschrieben werden und im Idealfall auch von ihm nochmal erklärt werden muss. Dafür muss aber auch der Arzt aufgeklärt werden. Da sind auch die Programmierer der Apps in der Verantwortung. Wenn zum Beispiel ein Patient eine App zur Feststellung von Medikamentenwechselwirkungen im Rahmen einer Therapie verwendet, sich über die Arztanweisung hinwegsetzt und ein Medikament absetzt, könnte das nachteilige Folgen haben. Ein entsprechender Hinweis, nochmal mit dem Arzt zu sprechen, muss daher eingebaut sein, anstelle von prozentualen Risikowahrscheinlichkeiten oder gar starren Handlungsanweisungen. Andererseits ist es auch nicht zweckmäßig, wenn die Menschen zu sensibel anspringen und bei jedem Hinweis der App sofort zum Arzt rennen. Da muss die Balance noch austariert werden.

Apps für Diagnose und Therapie werden vom DVG weitestgehend nicht berücksichtigt. Halten Sie das für ein Problem?
Auch für den Gesetzgeber sind Apps für die Diagnose und Therapie ein Stück weit Neuland. Deshalb entwickelt er Stück für Stück die Rahmenbedingungen und spricht hier gerne von „agiler Gesetzgebung“. Es ist natürlich einfacher, mit Apps erst einmal in den Bereichen Erfahrungen zu sammeln, in denen das Risiko weniger groß ist. Danach kann man die nächsten Schritte nachziehen. Am Anfang ist es sinnvoll, die Schotten nicht ganz aufzumachen und alles reinzulassen. Umgekehrt lässt sich der Filter später vergrößern für noch stärkere medizinische Produkte, in der Digital-Health-Szene spricht man von sogenannter „Serious Medicine“. Aber hier ist größere Vorsicht geboten. Denn wenn es bei einem digitalen Medizinprodukt Probleme gibt, kann dies das Vertrauen der Nutzer in die Digitalisierung schnell und nachhaltig erschüttern. Daher bauen wir Apps für die Diagnose und Therapie doch lieber langsam auf.

Frau Vetters, vielen Dank für das Gespräch.

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