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Auf, auf zu einer neuen Pflege

erschienen in EHEALTHCOM 2_3/22

Auch die Pflege soll jetzt digital werden. Was ist zu tun? Das Bündnis „Digitalisierung in der Pflege“ lud zum politischen Fachgespräch, um den politisch Verantwortlichen auf den Zahn zu fühlen.

Neue Regierung, neues Glück, könnte man pauschal sticheln. Mit Jens Spahn hat die Digitalisierung im deutschen Gesundheitswesen bekanntlich an Fahrt aufgenommen. Was löblich klingt, hat aber weiterhin viele Verantwortliche überrumpelt. Das E-Rezept hat der neue Gesundheitsminister Karl Lauterbach erstmal auf Eis gelegt. Zwar läuft der Fast Track, aber die digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA) haben bei den Leistungserbringern noch nicht so wirklich eingeschlagen, auch wenn sie den Patienten eigentlich nützlich sein könnten. Nichtsdestotrotz sollen in der Pflege auf die DiGA jetzt gleich die digitalen Pflegeanwendungen (DiPA) folgen. So sieht es das Digitale-Versorgung-und-Pflege–Modernisierungs–Gesetz (DVPMG) vor. 

Große politische Einigkeit im Ampel-Spektrum

Die Ampel-Regierung will jedenfalls weitermachen mit der Digitalisierung im Gesundheitswesen, verspricht im Koalitionsvertrag eine „regelmäßige fortgeschriebene Digitalisierungsstrategie“. Auch das klingt löblich. Die Formulierung bietet aber auch Anlass, um bei den digitalpolitischen Sprechern der Parteien mal etwas genauer nachzuhaken. Genau darum ging es auf der Veranstaltung „Ganzheitliche Digitalisierungsstrategie in der Pflege“.

Eine der zentralen Fragen der knapp einstündigen Veranstaltung war: Wem soll und wird dann die Digitalisierung in der Pflege letztlich nutzen? Den Pflegebedürftigen, den Angehörigen, den Pflegekräften oder am Ende doch wieder „nur“ den Kassen? Weitgehend einig waren sich die Diskutanten bei der angestrebten Entlastung der Pflegekräfte, die wieder mehr Zeit für ihre eigentliche Aufgabe gewinnen sollen, „dem Kümmern“ wie es der digitalpolitische Sprecher der SPD Matthias Mieves formulierte. Auch Kordula Schulz-Asche, Mitglied im Ausschuss für Gesundheit von Bündnis 90/Die Grünen, kritisierte die bedrohliche Tendenz, dass die eigentliche Betreuungsaufgabe zunehmend in den Hintergrund rücke. Digitale Lösungen könnten hier helfen, z. B. auch durch neue Möglichkeiten der Zusammenarbeit der verschiedenen Gesundheitsberufe. Auch sei das Problem des demografischen Wandels im Prinzip „nur digital lösbar“. 

Maximilian Funke-Kaiser, digitalpolitischer Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, betonte die Vielzahl der möglichen Ansatzpunkte einer digitalen Verbesserung der Pflege, von der Dokumentation, über die Sturzerkennung zu Hause bis hin zum im digital unterstützten kommunalen Quartiersmanagement für eine selbständigere Versorgung von Senioren. Er will die Vernetzung im Gesundheitswesen weiter ausbauen. Eine sichere TI und die Sicherstellung der technischen Interoperabilität seien dafür die Grundvoraussetzung. Auch Erich Irlstorfer, pflegepolitischer Sprecher der CSU-Bundestagsfraktion, möchte vor allem die Pflegekräfte entlasten und eine „sektorenübergreifende Entzerrung“ von Gesundheitsdienstleistungen. 

Es herrschte also im Prinzip Einigkeit, dass kein Weg um die Digitalisierung in der Pflege herumführt. Und auch erste Ideen für eine gezielte Einführung nannten die politisch Verantwortlichen. 

Folgt auf den HIH das KDP?

Matthias Mieves (SPD) stellte klar, dass ohne eine klare nationale Strategie letztlich alle politisch gesetzten Impulse nicht zielführend sein könnten. Er stützte damit das Anliegen des Bündnisses „Digitalisierung in der Pflege“ (getragen von den Verbänden bvitg, DEVAP, DPR , FINSOZ, vediso und VdDD), dessen primäre Forderung die Erarbeitung genau eines solchen nationalen Strategieplans ist. Ein Kompetenzzentrum Digitale Pflege (KDP), einer Organisationsstruktur analog dem health innovation hub, der bis Ende 2021 aktiv war und sich u. a. intensiv um die DiGA gekümmert hat, will das Bündnis als zentrale Koordinationsstruktur und Vernetzungsplattform etablieren. Das KDP soll, analog, zum hih, dem Bundesgesundheitsministerium unterstellt sein. Dort könnte dann ein interdisziplinär besetztes Team aus hauptberuflich und ehrenamtlich Tätigen, die alle Akteure des Gesundheitssystems repräsentieren sollen, regelmäßig zusammenkommen und im Austausch mit dem BMG, Bürgern, Leistungserbringern oder auch Herstellern z. B. Richtlinien und Leitfäden für die Digitalisierung in der Pflege erarbeiten.

Es zeigte sich, dass eine solche Instanz bei der Ampelkoalition durchaus auf offene Ohren stößt, auch wenn sie im Koalitionsvertrag bekanntlich nicht vorkam. Mieves etwa betonte, dass In einem solchen Kompetenzzentrum „institutionalisierte Best Practices“ ausgearbeitet werden könnten. Außerdem könnten – nach dem Design Thinking-Prinzip – zuvorderst auch die Menschen in der Pflege mit einbezogen werden, die mit einer Lösungen letztlich arbeiten sollen.

Weitere Forderungen des Verbändebündnisses: Eine digitale Kompetenzförderung bei allen Beteiligten, z. B. durch die Überarbeitung von Ausbildungsplänen in der Pflege, soll die Akzeptanz von technischen Lösungen sicherstellen, in den Pflegeheimen aber auch z. B. bei Smart Home Care-Lösungen, mit denen eine digital unterstützte Pflege im häuslichen Umfeld möglich ist. Im Zuge dieser Entwicklung sollen auch ganz neue Berufe entstehen, z. B. der eines „Pflege-Digital-Begleiters“. Schließlich ginge nichts ohne eine „digitale Grundausstattung“, sowohl in den Pflegeeinrichtungen als auch in den eigenen vier Wänden. Deshalb will das Bündnis laut Grundsatzpapier den „digitalen Reifegrad“ von Pflegeeinrichtungen bestimmen lassen. Bis Ende dieses Jahres soll eine entsprechende Analyse vorliegen. Auch hier wird aus dem Vorbild kein Geheimnis gemacht: Die digitale Reifegradmessung ist Gegenstand des DigitalRadar-Projekts, das die Förderung durch das Krankenhauszukunftsgesetz (KHZG) begleitet.

Na klar, das Geld

Damit die Pflegeeinrichtungen die infrastrukturellen Voraussetzungen (an)schaffen könnten, fordert das Bündnis „Digitalisierung in der Pflege“ auch eine gesetzgeberische Reform der Finanzierungsmöglichkeiten: „Die Innovationsförderung in ihrer bisherigen Form, unter anderem die in § 68a SGB V für den Bereich der Krankenversicherung festgeschriebenen Vorgaben, setzt in der Breite nicht die erforderlichen Anreize, um innovative digitale Lösungen und Prozesse in der stationären und ambulanten Pflege zu erproben und umzusetzen“, heißt es im Positionspapier. Ein „Pflegezukunftsgesetz“ soll analog dem Krankenhauszukunftsgesetz (KHZG) die rechtlichen Rahmenbedingungen der neuen Anschub- und Regelfinanzierung regeln. Der Knackpunkt an der Sache ist freilich, dass derartige Zukunftsgesetze gerade allenthalben gefordert werden. Auch die Arztpraxen hätten gerne ein „Praxiszukunftsgesetz“.

Um den Nutzen und die Besonderheiten der digitalen Pflege zu veranschaulichen, forderte Maximilian Funke-Kaiser (FDP) jetzt in dem Fall schnell erste Leuchtturmprojekte. Auf die Andersartigkeit der neuen Pflege verwies auch Kordula Schulz-Asche (Bündnis 90/Die Grünen). Digitale Pflege könne mit den neuen Tools oft schon vor der eigentlichen Pflegebedürftigkeit beginnen, betonte sie, die Etablieren von Angeboten in den Kommunen sei wichtig, um das verständlich zu machen. Auch Erich Irlstorfer will möglichst schnell „konkret werden“ und z. B. Regeln für die digitale Lösungen von Pflegeanbietern ausarbeiten. Eine so gestartete Digitalisierungsstrategie müsse sich dann aber in der Tat der Lebenswirklichkeit anpassen und könne nur als „lernendes System“ weiter Erfolg haben. „Der Datenschutz darf eine verbesserte Versorgung nicht behindern“, betonte er.

Kleines Fazit

Alle Parteien begrüßten ganz grundsätzlich den Nutzen der Digitalisierung für die Pflege. Das Thema Datenschutz und auch technische Details ließ man im Großen und Ganzen (lieber) Außen vor. Jetzt soll erstmal gemacht werden, um sich aus den Floskelwolken zu befreien und erste Erfolgsgeschichten zu produzieren.

Letztlich wird sich erst noch zeigen müssen, ob die Digitalisierung die großen Baustellen der Pflege wie Fachkräftemangel, personelle Unterbesetzung und damit die Vernachlässigung pflegebedürftiger Menschen, fehlende Attraktivität und Anerkennung des Berufs oder auch eine chronische Überlastung der Angestellten wirklich lösen kann. Dafür braucht es wissenschaftliche Belege im jeweiligen Einzelfall. Die Erkenntnis, dass Technik nicht einfach so funktioniert, sollte bei den IT-Verantwortlichen im deutschen Gesundheitswesen inzwischen angekommen sein. Das gilt auch für die Politik. Mehr als ein erster Aufschlag war die Veranstaltung von Verbänden und Politik nicht.

Was passieren muss, damit Senior:innen wirklich im Netz ankommen

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Die Impfterminvergabe hat es gezeigt: der Umgang mit (digitaler) Technik kann für ältere Menschen überlebenswichtig sein. Doch auch sonst löst der sichere Umgang mit Internet und Co. viele Probleme im Alltag. Der neue Altersbericht sagt, wie wir die Silversurfer besser mitnehmen.

Hektisches Treiben herrscht in diesen Tagen in den Gemeinden der Bundesländer. Briefe werden verschickt, Sprechstunden vereinbart, mobile Teams sind unterwegs, um ältere Menschen dabei zu unterstützen, die Corona-Ausnahmesituation zu bewältigen.

Und für diese Hilfsmaßnahmen gibt es einen klaren Grund: Denn die Wege zu Testungen und Impfterminen laufen in der Regel über das Internet. Sich digital informieren, die richtige Website aufrufen, Terminmaske auswählen, E-Mail-Bestätigung kontrollieren – was für viele Menschen leicht ist, kann für Silversurfer – also Menschen im Netz über 60 Jahre – noch eine große Herausforderung darstellen.

In der Pandemie wird die digitale Spaltung zwischen Jung und Alt besonders deutlich. Dabei müssten wir eigentlich gerade jetzt, wo wir alle stärker auf das Netz angewiesen sind, mithelfen, um Menschen ohne große Interneterfahrung zu schützen und in Sachen Technik nicht noch weiter abzuhängen.

Kann die Gesellschaft als Ganzes dafür etwas tun?

Die Statistiken machen generell optimistisch und zeigen das Potenzial

Die gute Nachricht lautet: Der Anteil der Senior:innen, die neue Technik nutzen, nimmt seit Jahren beständig zu. Allein während der Coronapandemie im Jahr 2020 stieg der Anteil der Internetnutzung unter 60–69-Jährigen um 4 Prozentpunkte.

Dazu reagieren ältere Menschen erstaunlich positiv auf neue Technik, die wirklich weiterhilft und intuitiv nutzbar ist – etwa Sprachassistenten. Ein Pilotprojekt aus den USA im Jahr 2019 verlief vielversprechend. Dass Menschen im Alter also grundsätzlich wenig technikaffin sind, sei »im Prinzip ein Klischee«, heißt es dort.

Trotzdem sind die Berührungsängste in Deutschland weiterhin ausgeprägt.

Einer Umfrage des Branchenverbands der deutschen Informations- und Telekommunikationsbranche (Bitkom) aus dem Herbst vergangenen Jahres zufolge wird von fast 70% der Älteren das Internet zwar »als Chance« begriffen, allerdings nutzt nur jeder zweite Mensch über 65 das Internet auch tatsächlich und nur 41% ein Smartphone – also das flexibelste Zugangsmedium. Ganz zu schweigen von möglicherweise coronarelevanten Apps.

Eine Umfrage der Bertelsmann-Stiftung sieht ebenfalls deutlichen Nachholbedarf, analysiert aber auch die Chancen: Darin heißt es, dass es insbesondere mehr digitaler Lernangebote oder »realer Orte« für den Erfahrungsaustausch bedürfe. Auch sei die Kommunikation innerhalb der Familie der größte Motivator, um sich mit digitalen Technologien zu beschäftigen.

Gute Ansätze sind also da. Aber?

Der neue Altersbericht zeigt, wo es wirklich hakt

Seit vielen Jahren wird der Umgang mit neuer Technik für ältere Menschen von der Bundesregierung gefördert. So nimmt etwa im 8. Altersbericht, der vergangenen Monat vorgestellt wurde, die »Digitale Souveränität« ein eigenes Kapitel ein.

Das Problem: In Deutschland herrscht beim Thema digitaler Kompetenzaufbau für Senior:innen vielerorts so etwas wie »Kleckerkultur«, mal etwas flapsig gesagt. Das heißt, über Einzelinitiativen hinaus mangelt es oftmals an einer Strategie zur Überführung von kurzfristig generiertem Wissen in nachhaltige Resultate.

Doch das Thema ist komplex. Das Leben älterer Menschen ist zutiefst facettenreich und jeder Mensch hat andere Bedürfnisse. Diese klar zu definieren und in Einklang mit der rasanten technologischen Entwicklung zu bringen, ist eine der größten Herausforderungen dabei. Ein weiteres zentrales Problem: die Verstetigung. In den »letzten 2 Jahrzehnten« sei eine Vielzahl von Initiativen und Angeboten »auf lokaler Ebene« geschaffen worden, »zahlreiche niedrigschwellige Angebote, die einen engen Bezug zum jeweiligen Sozialraum aufweisen und oft vom freiwilligen Engagement älterer Menschen getragen werden«, schreiben die Autor:innen. Seniorenbüros zum Beispiel. Insgesamt sei die »Landschaft dieser Angebote aber heterogen, unübersichtlich und instabil«, räumen sie ein.

An anderer Stelle wird die Kritik noch deutlicher: In einem Positionspapier des Fachbeirats Digitalisierung und Bildung älterer Menschen* wird nüchtern konstatiert, es gebe schlichtweg zu viele »Projektruinen«. Viele Projekte liefen nach Ende der Förderung einfach aus, ohne dass die Gesellschaft als Ganzes langfristig davon profitiere.

Beispiel gefällig? Von 22 in den Jahren 2014–2016 geförderten Technikberatungsstellen sind nach Auskunft des Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) noch ungefähr die Hälfte in ihrer ursprünglichen Form aktiv**. Als diese Beratungsstellen eingeführt wurden, glaubte man auch noch im großen Stil an die Idee des technikgestützten Wohnens (Ambient Assistent Living, kurz: AAL). Doch am Ende wollte praktisch niemand für diese Lösungen zahlen, weder die Wohnungswirtschaft noch die Krankenkassen. Auch bei den Senior:innen war die Resonanz äußerst verhalten.

Was also ist zu tun?

Ein neuer Ansatz: Das direkte soziale Umfeld digital kompetent machen

»Organisationen, Institutionen und Netzwerke müssen Lern- und Unterstützungsangebote zur Entwicklung digitaler Kompetenzen bereitstellen. Wenn bei älteren Menschen die Bereitschaft vorhanden ist, digitale Technologien zu nutzen, sie sich das dazu nötige Wissen jedoch nicht alleine aneignen wollen oder können, sollen sie auf solche Angebote zurückgreifen können«, ist im Altersbericht der Bundesregierung zu lesen.

Eigeninitiative trifft auf Angebot, so die Losung – aber wie könnte das konkret aussehen?

Birgit Apfelbaum, Mitglied der Altersberichtskommission der Bundesregierung, plädiert zum Beispiel für eine engere Abstimmung zwischen Ehren- und Hauptamt. »Vom Kern der lokalen, kommunalen Ebene in die Breite gehen«, heißt ihre Idee.

Es geht also darum, die digitalen Unterstützungsangebote direkt in der Bezugswelt der Senior:innen zu verankern. Denn in der Lebensrealität älterer Menschen geht es beim Thema Technik schließlich oftmals nur um eine sehr einfache Frage: »Wer kann mir helfen – und zwar jetzt?«

Der Sachverständigenrat der Bundesregierung schlägt etwa vor, das Bewusstsein für einen altersgerechten Umgang mit digitalen Technologien auch in den Ausbildungscurricula von Berufen zu verankern, die sich direkt auf die Lebenswirklichkeit von älteren Menschen auswirken. Das können Angehörige, Pflegekräfte oder auch der Bankberater sein, der über die Eröffnung und Nutzung von Onlinebanking aufklärt.

Denkbar wären auch Initiativen aus der Privatwirtschaft, zum Beispiel eine zusätzliche Unterstützung seitens der Elektronikfachmärkte. Die gibt es in der Tat schon. So bieten etwa Mediamarkt und Saturn in vielen Filialen spezielle Weiterbildungen für Senior:innen an. Auch die Gerätehersteller selbst, wie der Senioren-Smartphone-Hersteller Doro, haben offenbar die direkte »Seniorenberatung« als Wettbewerbsvorteil für sich ausgemacht, hier in Form einer Telefonhotline.

Einzeln für sich dürften diese Ansätze nur bedingt helfen. Zusammen aber könnten sie genau die Vielzahl von Unterstützungshilfen ergeben und zu einem generellen Umdenken führen – nicht nur unter den Silversurfern, sondern vor allem auch unter den Digital Natives (allen, die mit dem Netz aufgewachsen sind): Wir müssen uns klarmachen, wie viel Hilfe viele Silversurfer aktuell noch brauchen, und jederzeit bereit sein, unsere Eltern oder Großeltern auf ihrem Weg ins Netz zu begleiten. Gerade in Zeiten, in denen ohne Internet sonst ein Abgeschnittensein vom öffentlichen Leben droht.

Das Ziel ist nichts anderes als ein alltagsnaher digitaler Rat in allen Lebenslagen, jederzeit verfügbar, eine Rund-um-die-Uhr-Servicementalität, die für die Jungen im Netz längst selbstverständlich geworden ist.

//So könnte es funktionieren: Medien- und Techniklotsen in Hannover: In Hannover kommen Medien- und Techniklotsen nach Terminanfrage direkt in die häusliche Umgebung von Senior:innen (ob ins Altenheim oder in die eigenen 4 Wände). Dort beraten sie sie direkt am Gerät. Das Team dazu besteht aus rund 30 Ehrenamtlichen.//

*Der Rat ist an die bundesweite Servicestelle »Digitalisierung und Bildung für ältere Menschen« angegliedert)

**Man verweist auf Anschlussprojekte wie das Innovationsnetzwerk »Vernetzte Technikberatung und Techniknutzung« mit seiner Webpräsenz »Innovativ altern«, das nicht nur ein weiteres Reallabor in Form einer Musterwohnung umfassen soll, sondern auch eine bundesweite Organisationsstruktur für Seniorentechnikberater und Technikberatungsstellen sein will. »Die aus einer Förderung des BMBF hervorgegangenen Kommunalen Beratungsstellen (KBS) existieren in ganz unterschiedlichen Formen und Institutionen weiter und sind daher nicht 1:1 über den Namen nachverfolgbar«, heißt es aus dem BMBF.

zuletzt aktualisiert: 21.05.21, 17:21 Uhr

Das hat Deutschland jetzt mit deinen Daten vor

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Daten sind zu einem gewaltigen Wirtschaftsfaktor geworden – und werden in Zukunft in noch größeren Mengen fließen. Doch nach welchen Regeln? Mehr Souveränität verspricht das Prinzip der Datentreuhandschaft.

Du klickst auf eine Website, möchtest nur schnell etwas überfliegen und schon poppt eine ellenlange Datenschutzerklärung auf, die du lesen und annehmen sollst. Genervt klickst du auf »Zustimmen« und denkst nicht weiter darüber nach.

Immerhin zwingt die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) seit 2018 die Unternehmen dazu, uns mittlerweile überhaupt zu fragen. Doch was sich nicht geändert hat: umfangreiches Sammeln und Verwerten. Youtube speichert geklickte Videos, Google wertet Suchanfragen aus und Facebook erstellt ganze Beziehungsnetzwerke mit Interessen-Überschneidungen. Dabei greifen sie immer stärker in unsere Persönlichkeitsrechte ein. Und das gilt nicht immer nur für die großen Tech-Player, sondern kann auch für jede noch so kleine App zutreffen.

//»Wem gebe ich meine Daten und wozu?« ist vielleicht eine der wichtigsten Fragen des 21. Jahrhunderts.//

Und wem diese ausgewerteten Daten zur Verfügung gestellt werden, etwa um Werbung zu treiben, Daten aus verschiedenen Quellen miteinander zu verknüpfen und/oder uns politisch zu beeinflussen, darüber haben Nutzer:innen trotz DSGVO kaum Kontrolle. Fakt ist: »Souverän« sind wir kaum noch, wenn es um unsere Daten geht – mit nur einem ungeduldigen Klick lassen wir das alles sausen.

»Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus« nennt das die Harvard-Ökonomin Shoshana Zuboff in ihrem gleichnamigen Buch diese Praxis des bedingungslosen Datensammelns durch große Tech-Konzerne und die Prinzipien der dahinter stehenden Plattformökonomie, die uns als User:innen in unseren alltäglichen Entscheidungen zunehmend entmündigt. Dabei wächst das Unwohlsein, diese »Übergriffe« weiter uneingeschränkt zu akzeptieren.

Doch was lässt sich gegen globale Milliarden-Unternehmen schon tun?

Der Data Governance Act der EU und auch die neue Datenstrategie der Bundesregierung wollen nun neue »innovative Datenräume« schaffen*. Anders gesagt: Eine neue Form der Datenökonomie soll her, die anders funktioniert als nach den Regeln, die die Start-up-Konzerne aus dem Silicon Valley dem Rest der Welt übergestülpt haben. Und für diese neue Kultur will man eben auch an anderer Stelle ansetzen als nur bei AGB-Klauseln.

Mehr Kontrolle

Shoshana Zuboff stellt in ihrem Buch (indirekt) eine ganz grundsätzliche und zugleich provokante Frage: »Wo fängt unsere Datensouveränität eigentlich an?« und beschreibt, wie das von den Konzernen beherrschte Internet heute darauf ausgelegt ist, uns genau diese zu nehmen**. Gegenüber vielen dieser »Übergriffe« sind Endnutzer:innen überfordert, uninformiert oder haben schlichtweg keine Alternativen. Denn wer kann ernsthaft einen Bogen machen um Google, Facebook, Amazon oder Apple?

Die gute Nachricht ist: Dass man die Bürger:innen vor solchen Datenmonopolen schützen oder zumindest neue Gegengewichte schaffen muss, ist in der Politik bereits angekommen. Dazu gehören auch neue technische Ansätze, womit Prinzipien wie die Datensouveränität zum Beispiel über die technischen Verteilungsregeln von Daten auf Plattformen neu definiert werden können. Eine Lösung könnte das Konzept der Datentreuhandschaft sein.

//Warum Facebook und Co. so erfolgreich sind: Der Erfolg großer Plattformen hängt direkt mit der Übergriffigkeit zusammen. Denn wer die meisten Daten hat und diese geschickt auszuwerten weiß, der hat in der neuen Datenwirtschaft oft auch einfach das bessere Produkt.//

Neue Regeln für den Datenstrom

Ein sogenannter »Datentreuhänder« soll – das geht aus der Datenstrategie der Bundesregierung hervor – vor allem Vertrauen schaffen und als Vermittler zwischen 2 oder mehreren Parteien die Daten miteinander austauschen. Er soll dabei die Komplexität übernehmen, die ein sicherer und gezielter Austausch von Daten mit sich bringt und dabei auch auf die unterschiedlichen Interessen verschiedener Akteure achten.

//Daten werden in Zukunft überall in immer größeren Mengen entstehen und sie zu verwalten ist für alle Länder überlebenswichtig. Das hat die Bundesregierung erkannt.//

Zugegeben, das klingt alles noch sehr vage und abstrakt. Machen wir es an einem Beispiel konkreter: Fahrzeugdaten***.

Daran könnte eine Vielzahl von Akteuren Interesse haben. Hersteller wollen damit ihre Produkte verbessern. Eine Versicherung möchte daraus Preise und Tarife berechnen. Das Bundesverkehrsministerium möchte das Mobilitätsverhalten der Bevölkerung analysieren, um Forschungsgelder besser anzulegen. Auch sekundäre Dienstleister wie etwa Car-Sharing-Dienste könnten die Daten für ihr Unternehmen auswerten wollen.

Hier käme ein Datentreuhänder ins Spiel. Wer das Auto besitzt, überträgt ihm den Zugriff auf Dokumente und Daten des Wagens. Der Treuhänder kann sich dann mit Genehmigung auch Daten von Ämtern und anderen Stellen einholen – und sie mit entsprechender Erlaubnis (etwa »Diese Daten nur mit der Wissenschaft teilen«) an Anfragende weitergeben. Und das Ganze – ein wichtiger Punkt dabei – pseudonymisiert. Das heißt, dass die Fahrzeugdaten nicht mehr dem Halter zuzuordnen sind. Das schützt die Privatsphäre, garantiert aber auch, dass sich Datensätze weiterhin zusammenhängend (also zum Beispiel über einen längeren Zeitraum und mit einer klaren Zuordnung zu einer Personenentität) auswerten lassen. Dazu könnte ein Datentreuhänder den Wagenhaltenden transparent machen, wer aktuell in welchem Umfang die eigenen Daten nutzt.

Und wie könnte so ein »Datentreuhänder« ganz konkret aussehen?

Ein Treuhänder kann vieles sein

Im Prinzip handelt es sich bei Datentreuhändern um eine besondere IT-Organisationsstruktur. Organisieren ließe sich das sowohl als öffentlich-rechtliche Einrichtung als auch als Privatunternehmen mit entsprechender Software.

//Anforderungen an einen Datentreuhänder: Er muss die Datenschutzbestimmungen (nach DSGVO) einhalten, Daten gezielt aufbereiten und die Identität aller Beteiligten sowie ihre Berechtigungen zweifelsfrei sicherstellen. Eine enorm komplexe Aufgabe!//

Im Gesundheitswesen gibt es das Konzept schon – wenn auch nur in rudimentärer Form. Dabei geht es meist »nur« darum sicherzustellen, dass die Privatheit der Daten über alle Akteure hinweg gewährleistet ist. So hat für das deutsche Gesundheitswesen zum Beispiel das estnische Technologieunternehmen Nortal Vertrauensstellen für das Transplantationsregister und das Endoprothesenregister Deutschland (EPRD) realisiert, damit Patientendaten bundesweit klinikübergreifend sicher ausgetauscht werden können.

Auch beim geplanten Forschungsdatenzentrum für Gesundheitsdaten der Bundesregierung sollen die Gesundheitsdaten der gesetzlichen Krankenkassen zuerst an eine »Vertrauensstelle« fließen, die am Robert Koch-Institut eingerichtet werden soll, bevor sie an das eigentliche Forschungsdatenzentrum gehen. Das Ziel: maximale Auswertbarkeit bei maximaler Anonymität durch einen Datentreuhänder****.

Das ist schön gedacht, aber in der Praxis durchaus kompliziert, wie Teamleiter Entwicklung Jörg Müller von Nortal erläutert:

„Momentan gibt es an sehr vielen Stellen Nachholbedarf in Sachen Berücksichtigung von Datenschutzaspekten. […] Da Datenschutz mit Aufwänden verbunden ist, stößt das Thema auf viele Widerstände. Viele verschiedene Datenlieferanten verursachen zudem immer Aufwand bei der Anbindung ihrer Systeme an einen zentralen Datentreuhänder. Häufig liegen die gleichen Daten bei verschiedenen Lieferanten in jeweils unterschiedlichen Formaten vor, die dann alle harmonisiert werden müssen.“

Und hier zeigt sich ein weiteres Problem: Ein gutes Geschäftsmodell gibt es für die ominöse Instanz des Datentreuhänders nämlich noch nicht.

Erste private Anbieter gibt es zwar wie digi.me oder idento.one. Doch hier privatwirtschaftlichen Unternehmen das Feld zu überlassen könnte sich als Risiko herausstellen. Denn gerade Best-Practice-Modelle zu entwerfen wäre eigentlich Sache der Wissenschaft.

Das sieht auch der Bund teilweise so und fördert seit Januar 2021 neue Datentreuhandmodelle in der Forschung. Geplant ist etwa ein eigener Ideenwettbewerb. Währenddessen arbeitet die Politik weiter am den rechtlichen Rahmenbedingungen*****.

Klar ist nur, dass man in Deutschland und in der EU beim Thema Datensouveränität neue Wege gehen will. Dabei könnte ein noch vager und zugegeben piefiger Begriff wie »Datentreuhandschaft« tatsächlich zu einer neuen Datenkultur führen, wovon am Ende alle profitieren.

*Sowohl für Unternehmen und den Staat, aber auch für zivilgesellschaftliche Akteur:innen in Deutschland und Europa.

**Zuboffs Buch ist Wirtschafts- und Kulturkritik zugleich, an einer Datenökonomie, die sich an vielen Stellen unseres Internetalltags längst manifestiert hat. Das können schon ganz kleine Dinge sein: eine Bevormundung durch undurchsichtige Cookies im Browser etwa, Anti-Werbeblock-Maßnahmen auf Websites oder das bedingungslose Hochladen von Daten in die Cloud, obwohl sich viele Datensätze theoretisch auch auf dem eigenen Smartphone verarbeiten ließen, wie es zum Beispiel das Prinzip des Edge Computing vorsieht.

***Also alle Daten aus der Haltung und dem Betrieb eines Autos, von der Fahrtenschreiber-Software über den Kilometerstand bis zur An- und Abmeldung.

****Durch die Einbindung eines Intermediärs, der zwischen den Interessen verschiedener Parteien (Versicherte, Krankenversicherung, Wissenschaftler) vermittelt.

*****Die dann etwa Qualitätskriterien sowie Akkreditierungs- und Zertifizierungskonzepte regeln.

Das kann die Health App von Apple

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Die großen Techkonzerne drängen auf die nationalen Gesundheitsmärkte. Auch der Apple-Konzern will künftig kräftig mitmischen. Die ziemlich unscheinbare Health App steht dabei für mehr, als mancher so denken könnte.

Das kleine rote Herz vor weißem Grund sticht kaum hervor zwischen all den anderen Icons, die sich so auf dem eigenen Smartphone-Startbildschirm tummeln. Auf iPhones und iPods ab iOS-Version 8 ist die dazugehörige App bereits vorinstalliert. Sie gehört zu der Sorte von digitalen Fitness- und Lifestyle-Angeboten, an die man sich längst gewöhnt hat: Schritte, Kalorien und Schlafzeiten zählen.

Doch das Streben nach dieser Art von Selbstoptimierung ist nach wie vor nicht jedermanns Sache. »Ich spüre doch selbst am besten, wie es mir geht, dazu brauche ich doch jetzt nicht auch noch mein Smartphone«, mögen sich vielen denken. Ein Indiz dafür, dass diese Einstellung nach wie vor ziemlich ausgeprägt ist: Das Magazin Focus mit dem Aufmacher »Daten-Medizin« wurde zum echten Ladenhüter.

Doch hinter mancher unscheinbaren App steckt mehr, als auf den ersten Blick erkennbar ist. Viel mehr. Denn Apples Health App will nicht weniger sein als der Prototyp einer digitalen Gesundheitsschaltzentrale – für alle.

»Deine Gesundheit von Kopf bis Fuß«

Um die Health App zu starten, musst du nur auf das Icon klicken, ein Gesundheitsprofil erstellen und Größe, Alter sowie Gewicht hinzufügen. Und schon beginnt das Datensammeln.

Was viele iPhone-Nutzer:innen wohl nicht wissen: Die App zählt ab diesem Zeitpunkt in der Hosentasche fleißig mit, nämlich die Schritte, die so tagtäglich mit dem Smartphone absolviert werden. Allein daraus kann die App schon viele Schlussfolgerungen ziehen. Denn bei der Erfassung der täglichen »Mobilität« geht es nicht nur um die Anzahl der Schritte und die zurückgelegte Strecke, sondern zum Beispiel auch um die Asymmetrie des Gangs und die »bipedale Abstützungsdauer« (prozentualer Anteil der Zeit beim Gehen, in der beide Füße gleichzeitig den Boden berühren) – die wird etwa zur Beurteilung des Gleichgewichts bei neurologischen Erkrankungen herangezogen. Ja, die Apple Health App geht weit darüber hinaus, was andere Fitness-Apps abfragen. Und mit der Mobilität hört es längst nicht auf.

Ballaststoffe, Biotin, Eisen, Cholesterin, Jod, Kalium, Kalzium, Riboflavin, Selen. Die Liste der einzutragenden Ernährungsparameter der Apple Health App ließe sich noch lange fortsetzen. Richtig medizinisch wird es bei der Erfassung der Leistungswerte der Atemwege oder der Herzparameter (neben Herzfrequenz und Blutdruck zum Beispiel die »Herzfrequenzvariabilität«, welche die zeitliche Variation zwischen zwei Herzschlägen eines Menschen beschreibt). Dazu kommen bekannte Fitnessparameter wie der Body-Mass-Index, der Körperfettanteil oder die elektrodermale Leitfähigkeit der Haut. Manches sammelt die App vor allem mit verbundener Smartwatch automatisch – vieles müssen Nutzer:innen selbst eingeben. Weibliche iPhone-User können zudem ein Zyklusprotokoll anlegen (mit Parametern wie »Akne«, »Appetit«, »Kopfschmerzen«, »Hitzewallungen« oder »Nachtschweiß«).

Insgesamt 13 Gesundheitskategorien hat Apple inzwischen in der App zusammengezurrt. Und sie vernetzt sich: Etwa mit der Apple-EKG-App von Apple-Watches oder den Informationen anderer Lifestyle-Apps, die auf dem Smartphone installiert sind. Für jede Gesundheitskategorie werden passende Gesundheits- und Lifestyle-Apps aus dem App Store gleich mit angezeigt. Und ein eigenes Logo in Apples App-Store – »Works with Apple Health« – zeigt dabei, welche anderen Programme kompatibel sind.

Alles ist darauf ausgelegt, das Datensammeln so leicht und umfangreich wie möglich zu machen.

Was die App bringt

Ganz frisch ist die Health App definitiv nicht, denn es gibt sie schon seit iOS 8 (erschienen im September 2014). Seitdem werden ihre Features konstant ausgebaut, sodass sie heute gewissermaßen als Hub für ein ganzes Ökosystem zum Thema Gesundheit funktioniert. Gerade in der Verknüpfung entsteht so ein immer genauer werdendes Bild der Gesundheit einer Person. Und das kann dabei helfen, die eigene Gesundheit zu optimieren und Auswirkungen von verändertem Verhalten und neuen Gewohnheiten genau zu bemerken. So lässt sich beispielsweise ein Schlafplan einrichten, den die App mit Nudging zu Entspannungsaktivitäten wie einer kurzen Einschlafmeditation kurz vor dem Schlafengehen unterstützt.

Auch könnte die Health App als Gesundheitsdienst für Patienten funktionieren: Apple beschreibt auf der eigenen Website etwa das Remote-Monitoring von Säuglingen oder von Patienten mit chronischen Krankheiten daheim. Die gesammelten Daten können dabei den Kontrolltermin beim Arzt ersetzen – zumindest in den USA. Dort kann die App bereits seit 2018 Daten und Befunde an teilnehmende Praxen und Krankenhäuser übermitteln (und umgekehrt)*. Seitdem nehmen immer mehr Gesundheitsdienstleister an dem Programm teil. Denkbar ist das auch in Deutschland.

Auch als Retter in der Not will die Health App taugen. Über einen digitalen »Notfallpass« sollen Rettungskräfte direkt über den Startbildschirm des iPhones auf wichtige medizinische Informationen wie Vorerkrankungen, Blutgruppe, Medikation oder Wirkstoffunverträglichkeiten zugreifen können. Auch lässt sich eine Liste mit Angehörigen einrichten, die beim Auslösen eines Notrufs über die Seitentasten des iPhones automatisch eine Nachricht erhalten.

Dazu sind die gesammelten Datensätze für die Forschung Gold wert. Das weiß auch Apple und ermöglicht es, gesammelte Datensätze aus der Health App für Studien freizugeben. Für Entwickler (in Forschungseinrichtungen) hat Apple dazu eigene Frameworks (HealthKit, CareKit und ResearchKit) entwickelt. Erste dieser sog. Datenstudien zur Erforschung von Parkinson, Epilepsie und Autismus sind in den USA bereits gelaufen.

Ist das alles auch sicher?

Keine Frage, die Gesundheitsdaten, welche die Health App zusammenträgt, sind äußerst sensibel, da sie empfindliche Informationen über Personen enthalten, an die Versicherungen (oder auch Kriminelle) nur zu gerne kommen würden. Auch Gesundheitsminister Jens Spahn lässt mit seiner »Digitalisierungsoffensive« keinen Zweifel daran, dass er um den Wert der Gesundheitsdaten weiß und diesen Schatz heben will. So wurde hierzulande zum 1. Januar 2021 die elektronische Gesundheitsakte (ePA) eingeführt.

Das Wettrennen um die besten Gesundheitsdaten zwischen öffentlichen Gesundheitseinrichtungen und Privatkonzernen ist längst im Gange. Apples Ansatz könnte aber eventuell sogar Vorteile für Nutzer:innen bieten. Denn laut dem Unternehmen werden die in der App eingegebenen Daten automatisch verschlüsselt (bei Verwendung von Touch ID, Face ID oder eines Zugangscodes), in der hauseigenen iCloud von Apple gespeichert** und maschinell ausgewertet***.

Natürlich bleibt Apple ein Privatkonzern mit Sitz in den USA, wo geringere Datenschutzstandards gelten als in der EU. Doch so mancher möchte seine Gesundheitsdaten vielleicht lieber im Apple-Kosmos verwahren, als sie der eigenen Regierung anzuvertrauen – zumal der Konzern sich das Thema Datenschutz bereits aggressiv auf die (Marketing-)Fahne geschrieben hat.

Welche enorme Bedeutung das Unternehmen Apple der Gesundheitssparte generell zumisst, das hat der Apple-Chef Tim Cook in der Vergangenheit mehrfach betont. »Apples größter Beitrag zur Menschheit wird im Gesundheitsbereich liegen«, teilte er im Rahmen des Time 100 Summit 2019 mit. Die kleine Health App könnte also noch ganz groß rauskommen.

Infobox: Das »Quantified Self«

Diese Idee steht hinter vielen Health-Apps: das Sammeln von persönlichen Daten, um daraus die eigenen Gewohnheiten transparent zu machen und Erkenntnisse zu gewinnen, die dann das Leben der Nutzenden verbessern können.

* In der Health App werden sie dazu im Clinical-Document-Architecture(CDA)-Format abgelegt.

**So soll die Synchronisation der Daten über alle registrierten Geräte sichergestellt werden. Laut Apple müssen Apps, die auf die Health App zugreifen, eine »Datenschutzstrategie« nachweisen. Außerdem muss der User den entsprechenden Apps Zugriff auf die Daten in der Health App gewähren.

***Genauere Angaben zur Art und Weise der maschinellen Auswertung wollte Apple auf Anfrage nicht machen. Für eine Ende-zu-Ende-Verschlüsselung ist mindestens iOS 12 erforderlich. Für die Verarbeitung der Daten gilt die Apple-Datenschutzrichtlinie. Werden Drittanbieter-Apps eingebunden, gelten die dort vereinbarten Datenverarbeitungsrichtlinien.

zuletzt aktualisiert: 21.04.21, 19:21 Uhr

Keine Pflegeroboter in Sicht

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Digitalisierung in der Pflege – gibt es das überhaupt? Auf der ersten Smart Nursing Conference stellte man sich genau diese Frage, um anschließend die prinzipiellen Möglichkeiten der Digitalisierung im Pflegewesen zu erörtern. Dabei zeigte sich: Nur wer vom konkreten pflegerischen Nutzen ausgeht, hat die Chance, dass alle Beteiligten mitziehen.

Die Pflege in Deutschland ist in keinem guten Zustand. Schon lange nicht. Der Kostendruck in den Pflegeheimen sorgt für knappes Personal und schlechte Arbeitsbedingungen. Pflege ist ein Knochenjob und trotzdem finanziell nur wenig rentabel. Zudem genießen Pflegekräfte kaum soziales Prestige. Getreu dem Motto: Einer muss es halt machen. Wie viel von der notwendigen Sensibilität für echte menschliche Zuwendung bleibt in einem solchen Umfeld?

Oder sind die vorgebrachten Einwände inzwischen zu einer ewigen Litanei des Jammerns geronnen, die kaum noch einen sachlichen Blick auf den Zustand der deutschen Pflege zulässt? Fest steht, es sagt bekanntlich viel über eine Gesellschaft aus, wie sie mit ihren alten Menschen umgeht.

Auch wenn der Gesetzgeber hat mit dem Pflegepersonal Stärkungsgesetz (PPSG), der Pflegepersonaluntergrenzen-Verordnung (PpUGV), der Konzertierte Aktion Pflege nachgebessert hat, ist die Stimmung in der Branche zwar leicht besser als im Vorjahr, aber prinzipiell weiterhin mies. Das geht aus dem Care Klima Index 2019 vor, nach dem gut 40 % der professionellen Pflegekräfte und des Pflegemanagements nach wie vor deutliche Vorbehalte gegenüber der Wirksamkeit der gesetzlichen Maßnahmen hegt. Die konkreten Arbeitsbedingungen werden von einer Mehrheit weiterhin als „schlecht“ bewertet.

Könnte die Digitalisierung daran etwas ändern? Gefragt nach der Relevanz zukünftiger Innovationen steht die „Erweiterung der pflegerischen Kompetenz“ (68 %) an erster Stelle. Weit abgeschlagen ist hingegen die Robotik (14 %). Auf den weiteren Plätzen folgen mit 62 % der Wunsch nach einer „Entbürokratisierung durch Digitalisierung“, 45 % sehnen die Umsetzung der elektronische Patientenakte herbei, 39 % die der „Digitalen Dokumentation“. Für 35 % ist das AAL-Smart-Home von Relevanz und 26 % sprechen sich für mehr Innovation im Bereich Telemedizin und Tele-Pflege (Tele-Nurse, Tele-Care) aus.

Es gibt also Redebedarf, zumal es bis heute keine einheitliche „Strategie“ mit klaren Zielvorgaben für die Digitalisierung im deutschen Gesundheitswesen von politischer Seite gibt. Zwar wurden zahlreiche neue Strukturen und Foren geschaffen wie der Health Innovation Hub, Fördermittel bereitgestellt und Modellprojekte initiiert (wie die „Zukunftsregion digitale Gesundheit“) sowie gesetzgeberische Initiativen (DVG, PDSG, Krankenhauszukunftsgesetz usw.) auf den Weg gebracht (und verabschiedet), aber insbesondere für die Pflege resultiert daraus bisher nur wenig Konkretes, Verbindliches und Dauerhaftes.

Politisches Momentum erzeugen
Sechs Verbände aus dem Gesundheits- und Sozialwesen unter Federführung des Bundesverband Gesundheits-IT (bvitg) haben sich deshalb zu einem Bündnis „Digitalisierung in der Pflege“ zusammengetan und in einem Positionspapier erste Grundforderungen gestellt. Darunter fällt eben zuvorderst die Forderung nach einem „nationalen Strategieplan“ für die Digitalisierung in der Pflege bis zum Jahr 2022. Darin geklärt werden soll u. a. die gezielte Refinanzierung von erbrachten digitalen pflegerischen Leistungen, z. B. durch die Aufnahme in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen sowie die Etablierung neuer Berufsbilder wie das eines „Pflege-Digital-Begleiters“, der Pflegebedürftige dabei unterstützt, die digitalen Chancen in der Pflege überhaupt erst für sich zu erschließen und auf die eigenen Bedürfnisse abzustimmen.

„Ist die Pflege eigentlich schon bereit für eine Digitalisierung“ fragte Moderator Stephan Hohndorfs, Projektmanager am NursIT Institute, das zugleich Ausrichter der Veranstaltung war, gleich zu Beginn der ersten, rein virtuell ausgetragenen Smart Nursing Conference 2020 sinngemäß, in deren Rahmen rund 15 Redner vor allem aus der Gesundheits-IT-Wirtschaft zu Wort kamen – viele davon selbst mit langjährigen Berufserfahrungen in der Pflege, wie der Unternehmensgründer von NursIT Heiko Mania oder die Diplom-Pflegewirtin Annemarie Fajardo von der Beratungsfirma Curacon. Und wo fängt man am besten an?

Ein Vortrag kurz vor der Mittagspause von Annemarie Fajardo war es dann auch, den man vielleicht auch hätte ganz an den Anfang stellen können, um diese Frage zu beantworten. Sie präsentierte eine von ihrer Beratungsgesellschaft erarbeitete „Digi-Landkarte“, um konkrete Handlungsfelder für eine Digitalisierung in der stationären Altenhilfe überhaupt erstmal zu identifizieren.

Aus dieser Vogelperspektive wurde schnell deutlich, was Digitalisierung im Kern letztlich bedeutet: nämlich nicht nur die elektronische Patientenakte vor Ort, telemedizinische Zusatzangebote oder auch die Einbindung neuer Geräte in den Versorgungsalltag, sondern vor allem die Vernetzung der unterschiedlichen Akteure des Ökosystems Pflege, vom Pflegepersonal, anderen Krankenhäusern, dem Hausarzt über die Krankenkasse, externe Service-Dienstleister bis hin zu den Angehörigen in der häuslichen Versorgung. Woraus sich auch die besondere Komplexität des Vorhabens ergibt. Und die Erfordernis zu einer systematischen Überzeugungsarbeit. Oder wie Guido Burkhardt von der Beratungsfirma qhit healthcare consulting es zuspitzte. „In der Regel wollen viele Mitarbeiter ja keine Veränderung, sondern nur eine Verbesserung“.

Für gute Überzeugungsarbeit braucht es stichhaltige Argumente. Ein gutes Argument für eine gelungene digitale Anwendung im Pflegealltag lieferte Annemarie Fajardo mit der Formulierung „Diese Anwendung entlastet mich“, die in kluger Software aber nicht nur ausschließlich einen Benefit für das Personal, sondern z. B. auch eine Möglichkeit für Pflegeeinrichtungen sieht, sich als attraktiver Arbeitgeber zu präsentieren.

Mit der Dokumentation fängt alles an
Heiko Mania berichtete von seinen Erfahrungen bei der Entwicklung und Einführung von medizinischer Software für den Pflegealltag, insbesondere für die Pflegedokumentation. Die Digitalisierung der Pflegedokumentation ist für ihn der Schlüssel für eine weitere Digitalisierung in der Pflege. Er regte an, Digitalisierung weniger als reines IT-Projekt, das um ein Produkt herum angelegt sei, zu sehen, sondern den Prozess und das Change Management im Hinblick auf das anvisierte und im Vorfeld klar definierte Ziel in den Mittelpunkt zu stellen. Dabei sei die Digitalisierung „eine Lösung“ für die Bewältigung vieler Herausforderungen im deutschen Gesundheitswesen und in der Pflege.

Mania entwarf das Szenario einer „mobilen, automatisierten Pflege-Expertenplattform“, einem „Daten-Drehkreuz“, in das sich die Pflegeprozessdokumentation langfristig weiterentwickeln soll. Ihm schwebt die Entwicklung „vom Formular zum Management eines komplexen Datenmodells“ vor, in das Daten aus verschiedenen Produkten, z. B. Sensoren oder anderen Krankenhaus-IT-Systemen (KIS, PDMS, Abrechnung, Überleitportale) einfließen und dort (auf KI-Basis) ausgewertet werden sollen. „Vom smarten Teller in die Akte“, so Mania salopp. Ziel einer solchen Plattform sei es, das Fachwissen der Pflegekräfte anzureichern, hin zu einer „agilen Pflege“ auf der Basis eines „digitalen Workflows“. In diesen könnten langfristig auch Vorhersagemodelle für Patienten einfließen. Wann muss der Bewohner wieder auf die Toilette? Der Algorithmus könnte dafür in Zukunft eine Antwort parat haben.

Letztlich sollen die Pflegekraft so wieder mehr Zeit für ihre eigentliche Aufgabe gewinnen, die echte Zuwendung zum Patienten. Nur 25 % der Pflegezeit sei derzeit der direkten Arbeit am Patienten gewidmet, sagenhafte 60 % des Arbeitstages verfielen auf Dokumentationsaufgaben, so Mania. Das sind zutiefst ernüchternde Zahlen.

Produkte für das Daten-Ökosystem
Betrand Hughes vom Schweizer Unternehmen compliant concept, das sich auf die Sturz- und Dekubitusprophylaxe spezialisiert hat, stellte den „Mobility Monitor“ vor, ein einfach anzubringendes Monitoring-System für Betten, das z. B. fehlende oder überflüssige Bewegungen in der Nacht registriert und so ein dynamisches Risiko-Profil für Stürze oder die Entwicklung eines Dekubitus erstellt. Das System soll u. a. die Nachtruhe verbessern, weil Pflegende nur dann eingreifen müssen (z. B. durch die regelmäßige Umlagerung des Patienten), wenn der Patient sich nachts nicht selbständig ausreichend bewegt. Oder drohende Stürze werden erkannt, z. B. weil sich ein Patient nachts aufrichtet oder auf die Bettkante setzt. Das Pflegepersonal erhält dann eine entsprechende Warnmeldung. Schnittstellen zur Patientendokumentation oder auch zu den Smartphones der Pflegemitarbeiter sollen einen reibungslosen Datenfluss garantieren.

Thorsten Amann von der Firma Clinaris präsentierte ein Echtzeit-Tracking-System für Medizinprodukte im Krankenhaus, das auch den Hygienezustand und den technischen Status der Geräte abbildet. Daten, die für das Wartungs- und Hygiene-Personal, die Pflegedienstleistung für das Abstellen von Ressourcen aber auch für Ärzte, die schnell ein brauchbares freies Bett oder eine verfügbare Beatmungsmaschine suchen, von Bedeutung sein können.

Stefan Schieck, Business Development Manager bei 3M, präsentierte das System „360 Encompass Smarte KI“, zur automatisierten Codierung und Integration von Daten zu erbrachten pflegerischen Leistungen, insbesondere von Daten der medizinischen Dokumentation (Pflegedokumentation, Arztbriefe, technische Unterlagen, Formulare im KIS, Scans, Tages- und Pflegekurven, Labordaten, Medikationsdaten). Die Plattform soll für eine sichere automatisierte Erlössicherung sorgen.

Alina Guther und von der Firma ACD stellte den neuen, modular erweiterbaren Handheld Computer M2Smart®SE vor, der sich nach dem „Build your own device“-Prinzip mit verschiedenen Modulen erweitern lässt, z. B. mit dem Kamera-Modul zur Wunddokumentation M2Care-W mit TOF-Laser und Radar-Sensor zur Ermittlung von Wundgröße und -tiefe. Stoyan Halkaliev, CEO von NursIT, zeigt die dazu passende Wund-Manager-Software zur intelligenten Wunderfassung und mit Schnittstellen für die direkte Übertragung in die Wunddokumentation, z. B. in die elektronische Patientenakte oder auch in ein DICOM-Bildarchiv.

Sascha Stützer von Datalogic präsentierte das „Clinical Smartphone“ M20, das u. a. einen Barcode-Scanner und ein Minidisplay zur Anzeige von dringenden Mitteilungen umfasst, ohne dass das Gerät direkt berührt werden muss. Dafür verlangt Datalogic aber auch stolze 1799 €.

Wesentlich günstiger ist da die Cloud-basierte Team-Management-App HLth.care Team. Die ist nämlich kostenlos. Das gilt allerdings nur für die reine App, die nach dem Messenger-Prinzip funktioniert. Der SaaS- und die Enterprise-Services vor Ort können mit mehreren tausend Euro zu Buche schlagen. Guido Burkhardt von qhit healthcare consulting präsentierte das Tool, mit dem sich die Dienstplanung schnell, unbürokratisch und sicher in der Cloud abwickeln lassen soll – vor allem bei spontanen Dienstausfällen, die in der Pflege nicht selten sind. Damit soll die Work-Life-Balance des Pflegepersonals deutlich verbessert werden.

Was ist gute Pflege?
Im einem Interview mit EHealth.com äußerte sich Pflegeexperte Holger Dudel dazu wie folgt: „Theoretisch wissen wir, was wir tun müssen. Das steht alles in der Pflegecharta drin. Wir müssen Menschen aktivieren und die Selbstbestimmung verbessern, wir müssen die Pflegequalität stärken und Pflegebedarf vermeiden. Bei all diesen Punkten können technische Lösungen in unterschiedlichem Maße helfen. Es braucht also Anreize, die Einrichtungen belohnen, wenn sie Pflege vermeiden, Qualität anbieten und die Selbstständigkeit fördern. Die gibt es aber nicht. Eine Pflegeeinrichtung profitiert heute tendenziell davon, wenn der Pflegegrad steigt, weil sie dann mehr Geld erhält, der Aufwand aber nicht in gleichem Maße ansteigt. So lange das so ist, werden wir in der Fläche keine präventiv ausgerichtete Pflegetechnik sehen.“

Für ein neues „Bild“ von Pflege plädierte im Rahmen der Smart Nursing Conference deshalb auch Medizinfotograf Bertram Solcher (medizinphoto.de). In seinem Vortrag ging es erfrischenderweise mal nicht um die Details der neuesten Technik, sondern um die Macht der Bilder in der Darstellung der Aufgaben in Medizin und Pflege und aller Beteiligten in diesem System. Wie lassen sich alte Traditionsmuster von Pflege durch neue Motive aufbrechen, die über die Klischees von klassische Stock-Fotos hinausgehen? Müssen Arzt und Pflegekraft eigentlich immer am Krankenbett von oben herab auf den Patienten blicken? Welche Bedeutung haben Berührung und Zuwendung gerade jetzt, in Zeiten von Corona? Lässt sich in einem Rollstuhl vielleicht noch mehr tun als nur sitzen? Ein bisschen Phantasie kann an dieser Stelle sicher nicht schaden. Für gute Pflege. Und vor den harten Verhandlungen ums knappe Geld.

zuletzt aktualisiert: 08.02.21, 16:41 Uhr

Arztpraxis der Zukunft: Alexa kann jetzt auch Anamnese. Na ja, fast. (erschienen in EHealth 02/20)

Bild: Amazon

Wie sieht die Arztpraxis der Zukunft aus? Das will die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) wissen und hat das Modellprojekt „Zukunftspraxis“ ins Leben gerufen, das innovativen E-Health-Start-ups die Erprobung ihrer Produkte in der ärztlichen Praxis ermöglicht. Drei weitere Projekte haben jetzt den Weg in die Umsetzung gefunden. Diesmal im Fokus: die digital unterstützte Anamnese und eine PVS-Lösung aus der Cloud. Schon etwas länger dabei: ein KI-Telefonassistent.

Noch ist viel im Fluss. Diese Einschätzung teilt auch Juraj Kralj, Marketingleiter bei Idana („Intelligente digitale Anamnese“), wenn er nach den ersten Ergebnissen des Praxistests im Rahmen des KBV-Projekts „Zukunftspraxis“ gefragt wird. Das Unternehmen aus Freiburg entwickelt eine Software zur Digitalisierung von (kundenindividuellen) Anamnesefragebögen mit digital signierbaren Formularen. Über eine Web-App sollen die erfassten Daten über eine GDT-Schnittstelle direkt in die Software des PVS wandern und sich dort unkompliziert organisieren und weiterverarbeiten lassen. Das Konzept soll es z. B. ermöglichen, dass Patienten Fragebögen bereits zu Hause auf dem Smartphone oder auch im Wartezimmer auf dem Tablet ausfüllen können.

„Es geht für uns auch darum zu erfahren, welche Prozesse sich aus dem Produkt Idana überhaupt erst ergeben. Jede Anbindung an eine Hausarztpraxis bedeutet für uns erst mal wertvolle Erfahrungen, die wir in die Weiterentwicklung des Projekts stecken können, und das natürlich möglichst in kürzester Zeit. Insbesondere der Austausch mit allen Stakeholdern ist uns wichtig.“ Das Unternehmen konzentriere sich momentan noch auf Arztpraxen und medizinische Versorgungszentren. Auch Kliniken könnten für das Unternehmen langfristig interessant sein, wenn das technologische Umfeld stimme, sagt Juraj Kralj.

Zehn Unternehmen durchlaufen Tests in den Arztpraxen
Insgesamt zehn Unternehmen sind Teil des KBV-Modellprojekts. Mit dabei ist neue Medizintechnik für die Hautkrebsfrüherkennung, die bekannte Medizin-App ada Health, ein sensorbasierter Inhalator für personalisierte Therapieempfehlungen oder auch eine Datenbrille, AMA Xpert Eye, mit der Pflegekräfte bei der täglichen Arbeit im Versorgungsalltag Bild- und Datenmaterial an den Hausarzt übermitteln können. Alle diese Produkte werden bereits im Praxisalltag im Rahmen sogenannter Praxistests erprobt.

Dabei sollen praktische Erfahrungen aus dem Ärztealltag mit wissenschaftlicher Evaluation gekoppelt werden. In Zusammenarbeit mit dem Institut für Medizinische Soziologie und Rehabilitationswissenschaften der Charité unter Leitung von Prof. Dr. Adelheid Kuhlmey werden die ausgesuchten Produkte anhand von Fragebögen ausgewertet, die zu drei Zeitpunkten der Testphase von den Arztpraxen ausgefüllt werden, z. B. um die technischen Voraussetzungen abzufragen, Erfahrungswerte in den ersten Monaten und schließlich den konkreten Nutzen abschließend zu bewerten.

Die Fragebögen sollen sowohl einen allgemeinen Teil als auch produktspezifische Fragestellungen enthalten. Auch anonymisierte Nutzungsdaten wie die Nutzungshäufigkeit oder der Ausfall eines Systems fließen in die Evaluierung ein. Zusätzlich werden die Produkte AMAXperteEye und ada Health an der Charité zusammen mit Studierenden getestet, um ihren Nutzen in unterschiedlichen Szenarien der Versorgung und Lehre stichprobenartig zu bewerten. Bis 2022 soll eine abschließende Evaluation nach wissenschaftlichen Kriterien vorliegen.

Die Neuen
Vier Anbieter sind erst seit Kurzem im Praxistest und sammeln derzeit erste Erfahrungen. Neben Idana sind das Klindo und Red Medical sowie der KI-Telefonassistent Aaron.ai. Die Software Klindo („Klinische Dokumentation“) zielt, ähnlich wie die Idana-Lösung, auf eine Digitalisierung von Anamnese-Fragebögen, allerdings mit Fokus auf psychologisch und psychotherapeutisch arbeitende Praxen, die mithilfe psychometrischer Tests Indikationen wie Depressionen, Demenz oder auch ADHS abfragen. Im Zentrum des Praxistests steht die Frage, ob sich mit der Software der tägliche Bürokratieaufwand in Arztpraxen eindämmen lässt.

Red Medical ist ein KBV-zertifiziertes Cloud-PVS-System, das als „Software as a service“ komplett außerhalb der Praxis betrieben wird. Die Lösung verspricht intelligente und vor allem sichere Prozesse für Abrechnung, Dokumentation, den praxisinternen Datenaustausch, z. B. zwischen PVS und anderen Medizingeräten, und die Datenauswertung. Aaron.ai schließlich ist ein Telefonassistent auf KI-Basis. Er nimmt Anrufe entgegen, analysiert das Anliegen der Anrufer, fragt die für die Praxis relevanten Basisinformationen ab und stellt alle Informationen auf einer Web-Oberfläche bereit. Das Praxisteam kann entweder klassisch zurückrufen oder über die Software eine SMS verschicken. Der Hersteller wirbt vor allem mit einer einfachen Einbindung mittels offener Schnittstellen, ob in eine Telefonanlage, eine App, Website oder auch in einen smarten Assistenten wie Amazon Alexa oder Google Home.

Auf Herz und Nieren
In der Praxis für Allgemeinmedizin von Dr. Daniela Schoch im sächsischen Kirschau wird derzeit der Telefonassistent Aaron.ai im Praxisalltag erprobt. Der „erweiterte Anrufbeantworter“, wie Manfred Dunkelmann, Praxismanager der Praxis, es nennen würde, soll einen klar definierten Zweck erfüllen: die Erreichbarkeit der Arztpraxis verbessern. Ein Ziel, das auch erklärtes gesundheitspolitisches Ziel der KV Sachsen in den Jahren 2017 und 2018 war und für das insgesamt ca. 7,2 Millionen Euro bereitgestellt wurden. Über diesen Zeitraum hinaus wurde das Vergütungsmodell aber nicht verlängert.

„Der KI-Assistent erspart den Sprechstundenhilfen nach wie vor Stress“, sagt Manfred Dunkelmann. „Wenn es eng wird am Empfang und gleichzeitig das Telefon ständig klingelt, können die Schwestern eingehende Anrufe auch erst mal noch später abarbeiten, und das ohne schlechtes Gewissen.“ Anders als bei einem klassischen Anrufbeantworter müssen die Anrufe nicht einzeln abgehört werden. Die Patienten würden das Gerät annehmen, aber manchmal gebe es Probleme: wegen des ausgeprägten Dialekts der Anrufer, so der Praxismanager.

Auch eine selbstständige Terminvergabe übernimmt der KI-Assistent nicht. Gerade auch wegen der Pflicht zur schnellen Vergabe von Arztterminen im Einzelfall nach dem Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) sieht Manfred Dunkelmann eine mögliche Vollautomatisierung der Terminvergabe kritisch. Positiv zu bewerten sei, dass der Telefonassistent in das Konzept der papierlosen Praxis passe, ein Ziel, das sie in Kirschau mit hoher Priorität vorantreiben. Eine eigene Website spart man sich in der Landarztpraxis hingegen.

Auf der Suche nach „sinnvollen“ Anwendungen
Die Versprechen der Digitalisierung sind groß, auch im Gesundheitswesen, doch was damit „sinnvollerweise“ gemeint ist, ist oftmals noch unklar. Die Ideen der Unternehmen sind da, doch die Praxis ist voller (unvorhersehbarer) Tücken, gerade bei der Einführung von Produkten, deren Potenzial (auch) in der Vernetzung liegt und für die erst noch Erfahrungswerte gesammelt werden müssen. Genau hier setzt das KBV-Modellprojekt „Zukunftspraxis“ an.

Dass die Digitalisierung  auch im Hausarztwesen weiter voranschreitet, steht außer Frage. Das geht aus dem „Praxisbarometer Digitalisierung“ der KBV eindeutig hervor. Allerdings ist die Umsetzung in den verschiedenen Teilbereichen sehr unterschiedlich ausgeprägt. Für drei Viertel der Arztpraxen bedeutet Digitalisierung vor allem die Digitalisierung der Patientendokumentation. Auch verfügen 80 Prozent der Arztpraxen über medizinische Geräte, die mit digitalen Schnittstellen ausgestattet sind, die bei einer deutlichen Mehrheit der Praxen auch an das PVS angeschlossen sind.

Eindeutige Digitalisierungsdefizite gibt es hingegen z. B. bei der Kommunikation nach außen, sei es bei der schriftlichen Kommunikation mit anderen Ärzten, beim Austausch von Behandlungsdaten mit Krankenhäusern oder auch der Einbindung erweiterter digitaler Angebote für Patienten. Alles Mängel, die der Gesetzgeber mit seinen Initiativen zu DGV, ePA und Telematikinfrastruktur zu beheben versucht. Was sich bei den Gesprächen mit allen Projektbeteiligten aber jetzt schon ebenfalls abzeichnet: Digitalisierung bedeutet nicht nur Effizienzgewinne und neue Prozesse, sondern vor allem auch ein neues soziales Miteinander. Schon die einfache Installation eines Telefonassistenten auf dem Land macht das schnell deutlich.

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Digitale Zwillinge unserer Organe sollen uns vor Risiken und Nebenwirkungen bewahren (erschienen bei 1E9 am 16.01.2020)

Bild: Siemens Healthineers

Die Zukunft der Medizin ist individuell. Behandlungen sollen immer genauer auf einzelne Patienten angepasst werden, um Risiken und Nebenwirkungen zu vermeiden. Dafür braucht es in vielen Fällen Daten und die richtigen Algorithmen – und auch mal Konzepte, die bisher eher in der Autoindustrie oder dem Maschinenbau zum Einsatz kamen. Zum Beispiel: digitale Zwillinge.

Eigentlich sollte für Peter K. nach dem Einsetzen des Herzschrittmachers alles besser werden. Doch dann gab es Komplikationen, obwohl die Operation heute als Routine gilt. Eine Sonde ließ sich nicht richtig platzieren. Die OP zog sich fünf Stunden in die Länge und wurde schließlich ganz abgebrochen. So liest sich ein Erfahrungsbericht aus dem Forum der Deutschen Herzstiftung. Bei vielen Patienten lief alles reibungslos, doch immer wieder klagen welche über unerwartete Schmerzen, Schwindel oder drückende Kabel im Körper. Die Beispiele zeigen, dass selbst Standardeingriffe ganz anders laufen können als geplant.

Doch aus Sicht vieler Forscher könnte es eine Möglichkeit geben, die Risiken noch weiter zu verringern: Operationen und Behandlungen müssten einfach vorher geprobt werden – am individuellen Patienten, ohne ihm dabei Schmerzen oder Schaden zuzufügen. Die Probeläufe würden nämlich am Computer stattfinden – nicht an echten Organen, sondern an ihren datengestützten virtuellen Kopien, ihren „digitalen Zwillingen“. Die könnten beim Einsetzen einer Herzklappe genauso helfen wie bei der Verabreichung von Medikamenten. Der Haken an dem Konzept: Organe digital zu reproduzieren, ist ziemlich kompliziert.

Operationen könnten im Vorfeld getestet werden
Für Entwickler, die versuchen, eine organische Struktur wie das Herz möglichst realitätsnah am Computer nachzubilden, stellt sich zunächst eine entscheidende Frage: Was ist eigentlich ein Herz? Darauf gibt es verschiedene Antworten. Denn ein Herz ist vieles: ein Hohlmuskel mit einem komplexen Kammersystem, ein biochemisches Kraftwerk, das durch ein Erregungsleitungssystem gesteuert wird, und eine hochleistungsfähige Pumpe, in der Herzklappen wie Rückschlagventile arbeiten.

Mit all diesen Dimensionen eines Herzens sieht sich Tobias Heimann fast täglich konfrontiert. Er ist Leiter der Forschungsgruppe für Künstliche Intelligenz in der zentralen Technologieabteilung von Siemens Healthineers. Und er liefert Grundlagen für das Forschungsprojekt des Instituts für Cardiomyopathien in Heidelberg, das die Möglichkeiten eines digitalen Zwillings für die kardiale Resynchronisationstherapie auslotet. Vereinfacht gesagt: für die Therapie mit Herzschrittmachern. Die müssen eingesetzt werden, wenn ein Patient an einer chronischen Schwäche der Herzpumpe leidet und Medikamente nicht ausreichend wirken. Bei dem Eingriff werden Elektroden an den Herzkammern angebracht, die über ein Kabel mit einem Impulsgeber verbunden sind.

Wie entsteht ein virtuelles Herz?

Ein digitaler Zwilling zur Verbesserung einer Herzschrittmacherbehandlung ist allerdings nur dann von Nutzen, wenn in ihm neben der anatomischen Grundstruktur und der biophysikalischen Mechanik insbesondere das Erregungsleitungssystem des Herzens möglichst exakt – und vor allem individuell – nachgebildet sind. Dieses System besteht aus speziellen Herzmuskelzellen und leitet die elektrischen Signale weiter, die das Pumpen des Herzens regulieren.

„Wir haben immer ein grundsätzliches Modell, das die physikalischen Gegebenheiten abbildet. Diese sind seit langem bekannt. Mithilfe von Daten des Patienten, zum Beispiel aus dem EKG, bauen wir dann ein patientenspezifisches Modell“, erklärt Tobias Heimann von Siemens Healthineers. „Wir wissen also, wie das durchschnittliche Herz aussieht. Für die Praxis zählt aber das Individuum. Und für die Individualisierung des Modells nutzen wir Künstliche Intelligenz.“

Noch ist der digitale Zwilling des Herzens ein reines Forschungsprojekt – allerdings mit positiven Zukunftsaussichten. „Wir arbeiten schon seit gut zehn Jahren am digitalen Zwilling“, sagt Tobias Heimann. „Inzwischen sind wir soweit, dass wir sagen, wir betreiben nicht mehr nur Grundlagenentwicklung bei den Algorithmen, sondern wir wissen, dass es prinzipiell möglich ist, ein Herzmodell zu bauen.“ Für ihn und sein Team geht es jetzt darum, konkrete medizinische Fragestellungen zu evaluieren. „Wir versuchen beispielsweise herauszufinden, welche Teile eines Modells robust genug sind, um als eine neue Art von Biomarker verwendet werden zu können.“

Es muss also zunächst geklärt werden, für welchen Anwendungsfall ein Modell wirklich verlässliche Aussagen liefern kann. Lassen sich mit einem spezifischen Modell des Herzens tatsächlich die Risiken einer Operation vorhersagen? Oder lassen sich damit die Risiken einer medikamentösen Therapie besser einschätzen? Und welche Parameter-Daten-Kombination verspricht die zuverlässigste Vorhersage?

Auch Probleme von eher praktischer Natur müssen geklärt werden, bis es zu einem klinischen Einsatz kommt. „Damit ein Verfahren in der Klinik akzeptiert wird, muss es innerhalb einer bestimmten Zeit ablaufen“, sagt Heimann. Sprich: Es darf nicht zu lange dauern, soviel Zeit haben Krankenhäuser und Ärzte nämlich nicht. „Und dann gilt es natürlich noch, das Produkt in klinischen Studien zu validieren und letztlich die verschiedenen Freigaben zu erhalten, um es als Produkt vermarkten zu können.“

Weltweit sind virtuelle Organe in Arbeit
International wird an vergleichbaren Konzepten der in silico Medizin gearbeitet, der Computermedizin. Das seit 2014 existierende Living Heart Project um den französischen Softwarehersteller Dassault Systems gilt als der erste geglückte Versuch, das Herz in Form eines Vier-Kammer-Modells zu simulieren. Inzwischen sind knapp 100 Akteure weltweit aus Forschung, Industrie, klinischer Praxis und Regulierung an dem Projekt beteiligt. Es hat zahlreiche Studien hervorgebracht, unter anderem zur präziseren Vorhersage von Arrhythmien, also Herzrhythmusstörungen, zur Vorhersage der potenziell lebensgefährlichen Torsade-Tachykardie , einer besonderen Form des Herzrasens oder auch zur Vorhersage eines diastolischen und systolischen Herzversagens , also eines Herzversagens in der Entspannungs- oder in der Kontraktionsphase.
The Heart of the Future – Dassault Systèmes

Forscher der Eidgenössischen Materialprüfungs- und Forschungsanstalt in der Schweiz arbeiten derzeit an einem digitalen Zwilling für die Haut . Der Hintergrund: Schmerzmittel, Insulin oder auch andere Wirkstoffe sollen in Zukunft auch über spezielle Membranen, zum Beispiel über ein smartes transdermales Pflaster , verabreicht werden. Das hätte Vorteile für Patienten und Ärzte.

Patienten müssten sich keine komplizierten Medikamentenpläne merken, weil die Wirkstoffe automatisch verabreicht werden. Das könnte sogar Leben retten. Denn die falsch dosierte – oder ganz vergessene – Einnahme von Medikamenten kann, gerade im Alter , ein hohes Gesundheitsrisiko darstellen. Bei Diabetes-Patienten soll auf diese Weise auch das lästige Spritzen wegfallen.

Ärzte wiederum können mit dem digitalen Zwilling verfolgen und vorhersagen, wie ein Medikament beim Patienten eigentlich anschlägt. Denn das smarte Pflaster misst über Sensoren spezifische Veränderungen der Haut, die zum Beispiel etwas über die Wirkstoffaufnahme verraten, und füttert mit diesen Daten den digitalen Zwilling. Ergebnisse können damit langfristig ausgewertet werden und Dosierungen entsprechende nachjustiert werden. Die Software für einen solchen digitalen Zwilling soll sich etwa in einer Smartwatch verstecken lassen.

Auch an der virtuellen Leber wird bereits geforscht. Am Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik in Dresden wollen die Forscher durch eine exakte Simulation des Gallenflusses die Nebenwirkungen von Medikamenten besser vorhersagen können.

Auch wenn es sich bei vielen digitalen Zwillingen in der Medizin noch um Forschungsprojekte handelt, sind sie längst keine rein theoretischen Konstrukte mehr. In anderen Branchen sind sie sogar schon im Einsatz. Siemens setzt bei der Digitalisierung der eigenen Produktionsanlagen auf digitale Zwillinge, aber auch beim Design von Gasturbinen oder der Softwarentwicklung . Digitale Zwilling sind so individuell wie die Anwendungsszenarien, für die sie eingesetzt werden könnten. Die meisten davon dürften allerdings weniger komplex sein als die mathematische Modellierung eines Herzens – eine echte Mammutaufgabe. Doch sie könnte sich lohnen. Schließlich klingt Tobias Heimann auch nach zehn Jahren Forschungsarbeit noch zuversichtlich.

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Digitale Zwillinge
Ein digitaler Zwilling ist die virtuelle Repräsentation eines „realen“ Objekts auf der Basis von Daten. Digitale Zwillinge bestehen oft aus mehr oder weniger komplexen mathematischen Modellen, die der Abbildung und Simulation verschiedenster Eigenschaften des Ausgangsgegenstandes dienen. Sie kommen nicht nur in der Medizin zur Anwendung, sondern beispielsweise auch in der Automobil- oder Luftfahrtbranche zum Einsatz. Dort helfen sie etwa bei der Entwicklung neuer Modelle, um die aerodynamischen Eigenschaften oder auch die Stabilität einer Konstruktion frühzeitig zu testen.

Sie unterscheiden sich von herkömmlichen 3D-Modellen durch ihre hohe Dynamik und die Vielzahl der Parameter, die sich mit ihnen durchspielen lassen. Entscheidend ist am Ende, dass das Modell für den jeweiligen Anwendungsfall möglichst realistische Einschätzungen liefert, wodurch sich Risiken vermeiden lassen und oft auch Geld gespart werden kann.

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Dr. Google, Dr. Apple und Dr. Amazon wollen den Gesundheitsmarkt erobern (erschienen bei 1E9 am 10.12.2019)

Bild: created by macrovector – www.freepik.com

Wer Daten und digitale Angebote beherrscht, beherrscht auch den Gesundheitsmarkt der Zukunft. Darauf setzen die großen Tech-Konzerne. Wir erklären die Gesundheitspläne von Google, Apple, Amazon & Co. – und die der deutschen Regierung. Am Ende müssen wir uns fragen, wem wir unsere Daten geben wollen.

Bald können Ärzte ihren Patienten Gesundheits-Apps verschreiben, die von der Krankenkasse gezahlt werden. Und noch viel wichtiger: Genauso bald werden die elektronischen Gesundheitsdaten von 73 Millionen gesetzlich Krankenversicherten in Deutschland weitergegeben – zum Wohle der Forschung und ohne, dass dafür das Einverständnis der Betroffenen gebraucht wird. So wollte es Jens Spahn, CDU, der Bundesgesundheitsminister. Der Bundestag stimmte zu.

Am 7. November 2019 verabschiedete das Parlament ein Gesetz mit dem etwas sperrigen Namen Digitale-Versorgung-Gesetz. Das sieht vor, dass die Daten der Patienten in pseudonymisierter Form an eine zentrale Vertrauensstelle beim Bund der Krankenkassen übermittelt werden. Von dort aus wandern sie an ein „Forschungsdatenzentrum“, wo sie aufbereitet und auf Antrag für Forscher freigegeben werden.

An den Plänen gab es schon im Vorfeld viel Kritik – wegen der fehlenden Widerspruchsmöglichkeit, des mangelnden Schutzes der Daten oder der Gefahr einer sozialen Schieflage. Auch aus der Opposition im Bundestag kamen Zweifel an den Plänen des Ministers auf. Auf die reagierte er so:

„Wenn Google in diesen Tagen Fitbit kauft, dann höre ich von Ihnen nichts. Nichts! Amerikanische Großkonzerne kaufen nach und nach die Gesundheitsdaten der Bürgerinnen und Bürger. (…) Wenn es um Großkonzerne geht, die Geld machen, dann höre ich von Ihnen nichts.“

Unabhängig davon, ob die Vorwürfe von Jens Spahn in Richtung der Opposition richtig sind oder nicht: Ein Punkt trifft auf jeden Fall zu. Amerikanische Großkonzerne häufen seit Jahren Gesundheitsdaten an – für neue digitale Angebote, für Finanzprodukte oder zum Trainieren von Künstlicher Intelligenz. Es winkt ein gigantischer Markt. Und wir zeigen, wie Google, Apple, Amazon und andere schon heute in diesen Vordringen.

Google & Alphabet: Von der intelligenten Windel bis zum Fitnessarmband
Wie man mit neuen Technologien die Gesundheitsbranche aufmischen kann, überlegen sich Google und seine Muttergesellschaft Alphabet schon seit einigen Jahren. Im Konzern ersann man bereits eine Kontaktlinse, die den Blutzuckerspiegel messen soll – musste die Idee aber dann wieder verwerfen. Bei der Google-Schwesterfirma Calico sucht ein Forscherkollektiv nach Möglichkeiten, den menschlichen Alterungsprozess aufzuhalten. Und der Futurist Ray Kurzweil, der als Director of Engineering für Google arbeitet, kann sich Nanoroboter vorstellen, die durch die Blutbahn kreisen und Krankheitserreger identifizieren.

Doch damit endet der Streifzug durch die Gesundheitsprojekte von Google – besser gesagt: des Mutterkonzerns Alphabet – noch lange nicht.

Insbesondere der Ende 2015 gegründete Life-Sciences-Ableger Verily baute sein Portfolio sukzessive aus. Verily entwickelt intelligente Sensoren zur Erkennung von Vorhofflimmern und zur nicht-invasiven Messung des Blutzuckerspiegels. Die Firma bastelt an einer intelligenten Windel und forscht in Kooperation mit Pharmaunternehmen an bioelektronischen Implantaten 2, die Nervenimpulse abgreifen und auswerten sollen. Außerdem werden Machine-Learning-Algorithmen von Verily für die Erkennung spezifischer Krankheiten und Biomarker trainiert, zum Beispiel zur Vorbeugung koronarer Herzkrankheiten oder zur Synthese neuer Nanopartikel.

Mit der Plattform Project Baseline will Verily eine Art private Version von Jens Spahns Forschungsdatenzentrum etablieren – für Patienten, die bereit sind ihre Daten zu spenden, für Forscher, Kliniken. Auch die kalifornischen Medizin-Startups Freenome und Ciitizen arbeiten mit dem Geld von Verily. Freenome entwickelt ein Verfahren, um herkömmliche Blutproben mittels KI zu untersuchen, um eine mögliche Krebserkrankung zu erkennen. Ciitizen arbeitet an einer persönlichen Gesundheitsakte.

Schon 2016 kam heraus, dass die Alphabet-KI-Tochter DeepMind, die ebenfalls an der Früherkennung von Krebs und anderen Erkrankungen arbeitet, eine Vereinbarung mit dem britischen National Health Service getroffen hatte – für den Zugriff auf 1,6 Millionen Patientendaten. Einen ähnlichen Deal fädelte Google 2017 mit dem University of Chicago Medical Center ein. Und vor wenigen Tagen wurde bekannt, dass Google im Rahmen der Initiative Project Nightingale Gesundheitsinformationen des größten amerikanischen Non-Profit-Gesundheitsdienstleisters Ascension auswerten kann. Es geht um die Daten von Millionen von US-Bürgern. Unter anderem sollen Laborergebnisse, Diagnosen und individuelle Krankheitsverläufe in die Google Cloud wandern.

2,1 Milliarden US-Dollar ließ sich Google nun die von Jens Spahn erwähnte Übernahme von Fitbit kosten, einem der profiliertesten Hersteller von Fitness-Armbändern, der auch Smartwachtes im Angebot hat. Und das obwohl Fitbit eigentlich in der Krise steckt. Die Vermutung liegt daher nahe, dass es Google nicht um schnellen Profit geht, sondern auch um wertvolle Nutzerdaten, die die Voraussetzung für neue Health-Angebote sind. Schließlich sammeln Fitness-Tracker und Smartwatches die Gesundheitsdaten direkt am Handgelenk. Mit Google Fit verfügt Google zudem bereits über eine Consumer-Gesundheitsplattform, auch der Google Assistant hat Gesundheitsfunktionen im Programm.

Apple: Das EKG in der Apple Watch
Google verfolgt spätestens mit der Fitbit-Übernahme einen ähnlichen Ansatz wie Apple. Für den Tech-Konzern bildet die Apple Watch einen zentralen Baustein der eigenen Consumer-Health-Strategie ist.

Seit Version 4 der Apple Watch, die im September 2018 erschienen ist, liest die Uhr ein 1-Kanal-EKG vom Handgelenk ab. Die Aufzeichnung ist zwar nicht gleichzusetzen mit einem „klassischen“ 12-Kanal-EKG im Rahmen einer ärztlichen Untersuchung. Mit ihr lassen sich aber trotzdem Herzfrequenz und Herzrhythmus bestimmen. Das wiederum lässt Rückschlüsse auf ein mögliches Vorhofflimmern zu. Im Rahmen einer groß angelegten Studie mit 400.000 Teilnehmern konnte die Uhr dann tatsächlich Fälle identifizieren, die später von Medizinern bestätigt wurden. Mit dem in diesem Jahr erschienenen Betriebssystem watchOS 6 führte Apple eine Reihe neuer Gesundheitsfunktionen ein, auch neue Studien sind geplant.

Als zentraler Hub für die Zusammenführung aller Gesundheitsdaten auf dem iPhone dient die Health-App. Schon jetzt zählt die App automatisch die Schritte des Users, zeichnet automatisch die Aktivitätsdaten der Apple Watch auf und ist auch für die Integration mit anderen Gesundheits-Apps ausgelegt. Auch für Apples Gesundheitsstrategie gilt also: Ohne Daten der Nutzer geht kaum etwas.

Seit dem Frühjahr 2018 betreibt Apple außerdem eigene Kliniken für seine Mitarbeiter. Und ähnlich wie die Google-Schwesterfirma Verily mit dem Project Baseline, will auch Apple Forschern und Entwicklern dabei helfen, im Rahmen von Studien die Gesundheitsdaten von Teilnehmern zu sammeln. Dafür stellt der iPhone-Hersteller ein Research Kit zur Verfügung.

Amazon könnte Alexa ins Krankenhaus schicken
Schließlich ist auch Amazon bereits in den Gesundheitsmarkt eingestiegen. Wie bei Apple wird auch hier die eigene Belegschaft aktiviert, um Erfahrungen zu sammeln. Mit Amazon Care profitieren die Mitarbeiter des Tech-Giganten in den USA von außerstaatlichen Gesundheitsdienstleistungen in Form einer persönlichen medizinische Betreuung per App. Ärzte können per Video konsultiert und Pflegefachkräfte per Chat zu Gesundheitsthemen befragt werden. Mobile Experten kommen auch persönlich im Büro oder zuhause vorbei, um einzelne Untersuchungen oder Maßnahmen durchzuführen. Näher dran am Kerngeschäft: Medikamente lassen sich per App an die eigene Haustür liefern. Kein Wunder: Vor gut einem Jahr erwarb Amazon die Online-Apotheke PillPack.

Mit Haven Healthcare, einem Joint Venture mit JPMorgan Chase und Berkshire Hathaway, tritt das Unternehmen inzwischen praktisch als Krankenversicherung der Zukunft auf – die sich zunächst nur an die eigenen Mitarbeiter richtet. Kritiker sehen darin einen Überwachungs-Alptraum. Auch das Klinik-Umfeld ist für Amazon interessant. Mit dem Machine-Learning-Tool Amazon Comprehend Medical will Amazon in Zukunft unstrukturierte Patientendaten aus Patientenakten auslesen und daraus medizinische relevante Informationen gewinnen.

Und natürlich spielt auch Alexa eine Rolle. Der Sprachassistent wurde in den USA bereits für die rechtskonforme Übertragung von Gesundheitsdaten wie der Abfrage von Untersuchungswerten fit gemacht und könnte theoretisch schon bald neben jedem Krankenbett stehen, um das Gesundheitspersonal zu entlasten.

Auch Facebook, Microsoft und viele Start-ups mischen mit
Facebook und Microsoft haben ebenfalls bereits mehrere Gesundheitsanwendungen entwickelt. Neue Facebook-Tools sollen zur Blutspende motivieren oder an rechtzeitige Vorsorgeuntersuchungen erinnern. Microsoft geht mit KI- und Cloud-Software-Tools ins Rennen.

Konkurrenz könnten Google, Apple, Amazon & Co. außerdem von hochspezialisierten Gesundheits-Start-ups bekommen, die weltweit entstehen. Ihre Lösungen greifen oft dort an, wo das klassische Gesundheitswesen bisher versagt. Hier sollen stellvertretend nur drei Beispiele genannt werden.

In den USA hat sich Livongo auf die Therapiebegleitung chronischer Krankheiten spezialisiert. Patienten sollen mithilfe personalisierter KI-Modelle, die medizinische Krankheitsindikatoren im Alltag überwachen, so unterschiedliche chronische Leiden wie Diabetes, Bluthochdruck oder auch Übergewicht besser in den Griff bekommen.

In Deutschland will das Unternehmen Telepark Patienten mit fortgeschrittener Parkinson-Erkrankung über einen Tele-Dienst enger, aber ortsunabhängig mit Ärzten vernetzen, um ihnen ein selbstbestimmteres Leben zu ermöglichen. Dazu werden, zum Beispiel, über einen Strumpf kontinuierlich Daten zur Ganganalyse erhoben. Alzheimer-Datenstudien will das Gesundheits-Startup neotiv aus Magdeburg auf den Weg bringen. So soll auf der Basis von neu entwickelten kognitiven Tests, die spezielle Hirnregionen zum Speichern von Erinnerungen abfragen, die Krankheit langfristig früher erkannt und besser überwacht werden können.

Der Erfolg für die Tech-Konzerne ist nicht vorprogrammiert
Am Ende wird sich der Erfolg von vielen dieser Innovationen nur einstellen, wenn viele Menschen auf Dauer bereit sind, privaten Unternehmen Ihre Gesundheitsdaten zu geben. Selbstverständlich ist das nicht, das mussten selbst zwei der größten Tech-Konzerne bereits feststellen.

Google Health, die seit 2006 entwickelte elektronische Gesundheitsakte von Google, die nur im englischsprachigen Raum verfügbar war, wurde zum im Januar 2012 eingestellt. Auf ihr konnten medizinische Untersuchungsdaten erfasst und ausgewertet werden, zum Beispiel, um vor Wechselwirkungen von Medikamenten oder Allergien zu warnen. Auch Microsoft versuchte sich seit 2007 an einer digitalen Gesundheitsakte, in der Nutzer ihre medizinischen Daten sammeln konnten. Vor wenigen Wochen, am 20. November 2019, wurde HealthVault dann offiziell eingestellt.

Der Misserfolg dieser Projekte könnte darin begründet sein, dass sie nicht allzu viel Mehrwert lieferten. Doch wie werden sich die Nutzer verhalten, wenn sich das bei zukünftigen Apps und Diensten ändert? Vielleicht geben die Nutzer in Deutschland ja nur einer Stelle ihre Daten: dem Forschungsdatenzentrum von Jens Spahn. Weil sie gar nicht anders können.

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So lässt sich die Bundesregierung die Zukunft vorhersagen (erschienen bei 1E9 am 02.11.19)

Es gibt auch in der Politik ein Leben nach der nächsten Wahl. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung hat ein „Zukunftsbüro“ und einen „Zukunftskreis“ damit beauftragt, die Welt von morgen vorherzusagen. Was bringt dieser wissenschaftliche Blick in die Kristallkugel?

„Die Zukunft ist keine sauber von der jeweiligen Gegenwart abgelöste Utopie: Die Zukunft hat schon begonnen. Aber noch kann sie, wenn rechtzeitig erkannt, verändert werden.“ – Robert Jungk, Zukunftsforscher

„Die beste Methode die Zukunft vorherzusagen besteht darin, sie zu erfinden.“ – Alan Kay, Informatik-Pionier

Im Bundesministerium für Bildung und Forschung, kurz BMBF, hat man einen Plan. Ein neu eingerichtetes „Zukunftsbüro“ soll zusammen mit einem „Zukunftskreis“, einem interdisziplinären Expertengremium aus den Bereichen Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur und Zivilgesellschaft, Szenarien erarbeiten – und zwar für „mögliche, wahrscheinliche und wünschenswerte Zukünfte“ bis zum Jahr 2030. 6,5 Millionen Euro lässt sich der Bund das für die kommenden drei Jahre kosten.

In einer ersten Studie sollen Veränderungen von Wertevorstellungen und neue Arten der Wertevermittlung in Deutschland untersucht werden. So weit, so abstrakt. Konkret könnte es dabei, zum Beispiel, darum gehen, auf wie viel Privatsphäre die Menschen verzichten würden, wenn es um ihre eigene, digitale unterstützte Gesundheit geht.

„Strategische Vorausschau“, auf Englisch: Foresight , nennt sich das neue Arbeitsfeld im BMBF, das gar nicht so neu ist. Es ist vielmehr eine Fortsetzung von zuvor angestoßenen „Foresight“-Prozessen aus den Jahren 2007 bis 2009 und 2012 bis 2014. Der erste Prozess hatte das Ziel, technologische Zukunftsfelder zu identifizieren. Beim zweiten wurde untersucht, wie diese mit dem gesellschaftlichen Alltag zusammenlaufen. Zu den Methoden bei der Vorausschau im Regierungsauftrag gehörten Literaturrecherchen, Experten-Interviews, Workshops und Analysen, also vorwiegend qualitative Methoden

Neun Geschichten aus dem Jahr 2030
Als Ergebnis wurden neun „Innovationskeime“ identifiziert, die 2015 in neun „Geschichten aus der Zukunft“ präsentiert wurden – ob über „Arbeitskollege Computer“, „Privatsphäre im Wandel“, „Kollaborativ-Wirtschaft“ oder „Deutschland Selbermachen“. Hier eine kleine Leseprobe aus der letztgenannten Geschichte:

Tinka öffnet den WerkRaum wie immer gegen 9:30 Uhr. Sofort beginnt es, aus der Kochecke zu brodeln, bunt zu blinken und zu pfeifen. Sie grinst. Scheinbar funktioniert das KaffeeBot nun endlich, nachdem die vier Mädels aus der Schule von nebenan wochenlang daran rumgebastelt hatten – da hat es wohl doch an dem optischen Sensor gelegen. „Wow!“ Bei näherer Betrachtung bemerkt sie, dass eine extragroße Menge Kaffee gekocht wird. Da haben die cleveren Mädels es doch tatsächlich geschafft, den Bot an den WerkRaum-Kalender anzuschließen, sodass er selbst erfasst hat, dass heute Morgen eine große Gruppe kommt.

Die Voraussage für 2030, auf der die Geschichte beruht, ist die Entstehung einer gesellschaftlichen Selbermachen-Bewegung, in der traditionelle handwerkliche Fähigkeiten auf neue Technologien wie 3D-Drucker treffen – gepaart mit dem Wunsch nach mehr Nachhaltigkeit. Bisher lässt sich sagen, dass die Maker-Kultur zwar weiterhin regen Zulauf erhält, eine riesige, deutschlandweite Bewegung aber noch nicht entstanden ist. Auch von einer dezentral organisierten „Kollaborativ-Wirtschaft“ (Sharing Economy) aus einer der anderen Geschichten sind wir noch entfernt. Aber bis 2030 ist ja auch noch ein bisschen Zeit.

Wie zutreffend waren frühere Prognosen?
In die Zukunft schaut die Bundesregierung schon seit den 1980er Jahren – und seitdem immer häufiger und in immer mehr Formaten. 1992 und 1998 wurden die ersten Delphi-Studien in Auftrag gegeben, deren Methodik weiter unten erklärt wird. Vereinzelte Foresight-Prozesse gibt es seit den 1990er Jahren. Ebenfalls seit dieser Zeit ist das Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag als feste Institution angesiedelt. Und im Jahr 2000 rief die damalige Forschungsministerin, Edelgard Bulmahn, den „Forschungsdialog Futur“ ins Leben, um Leitvisionen für Forschung und Entwicklung zu erarbeiten.

Die Politik hat also reichlich Material, auf das sie bei Entscheidungen für die Gestaltung der Zukunft zurückgreifen könnte – zumal die beauftragten Experten oft richtig lagen. Vielen Thesen der älteren Delphi-Studien über mögliche Zukünfte sind auch heute noch plausibel.

Doch es gab natürlich auch Prognosen, die nicht eintrafen. Auf eine Insulinkapsel zum Einnehmen, die zwischen 2005 und 2011 erwartet wurde, oder eine HIV-Impfung, die spätestens 2019 verfügbar sein sollte, warten wir leider weiterhin. Auch ein „weltumspannendes Netzwerk zur Überwachung von Umweltbelastungen auf der ganzen Erde, insbesondere ihrer Ausbreitung, […] das 24 Stunden lang in Echtzeit Daten empfängt, diese Informationen integriert, systematisch analysiert und sie dann weltweit verbreitet“ ist in dieser integrierten Form noch nicht einsatzbereit, obwohl es für 2008 bis 2015 antizipiert wurde. Auch die Einrichtung einer europäischen Regierung, die nationalstaatliche Souveränität ablöst, galt mal als Megatrend.

Zur „Verteidigung“ der Gremien muss man sagen, dass viele Thesen auch damals als unrealistisch eingestuft wurden. Aber: Sie wurden zumindest mal gedacht.

Von Delphi bis Zukunftsrad: So kommen Zukunftsbilder zustande
Wie kommen diese Bilder der Zukunft überhaupt zustande? Und wie lassen sie sich auf ein gesundes Maß an Realismus eindampfen und sinnvoll bewerten? Der „Zukunftskreis“ bedient sich laut eigener Aussage vier klassischer Methoden der Vorausschau, um „Zukunft zu gestalten und gestaltbar zu machen“: „Delphi-Technik“, „Szenariotechnik“, „Visioning“ und „Futures Wheel“.

Bei der Delphi-Technik, die nach dem antiken Orakel von Delphi benannt ist, liegt der Schwerpunkt auf der Befragung einer Gruppe von Experten. Jeder soll dabei zu konkreten Thesen über mögliche Zukünfte Stellung nehmen. Waren alle einmal dran, werden sie anonym über die Antworten ihrer Kollegen informiert. Dann müssen sie sich erneut äußern. So soll über mehrere Runden eine möglichst differenzierte Bewertung entstehen, die möglichst frei ist von Gruppen- und Interessensdynamiken. Eine mögliche These, die man heute zur Debatte stellen könnte, wäre beispielsweise, dass der Anteil autonomer Fahrdienste am öffentlichen Nahverkehr im Jahr 2050 25 Prozent betragen wird.

Bei der Szenariotechnik geht es darum, mögliche Szenarien für die Zukunft zu entwickeln und zu antizipieren, wie wahrscheinlich ihr Eintreten jeweils ist – basierend auf unterschiedlich gewichteten Einflussfaktoren. Ein autonomer öffentlicher Nahverkehr, zum Beispiel, hängt davon ab, ob zentrale technische Probleme gelöst werden können, das Vertrauen der Menschen in autonome Fahrzeuge steigt, die rechtlichen Rahmenbedingungen geklärt sind und so weiter. Aber welcher Faktor ist wirklich entscheidend für den Durchbruch auf dem Massenmarkt? Hier müssen die Zukunftsforscher gewichten.

Beim Visioning geht es darum, eine Vision zu entwickeln oder eine gemeinsame Leitidee, wie eine wünschenswerte Zukunft aussieht. Solche Ideen dienen der Orientierung – kleinteiligere, weniger bedeutende Ziele werden ihr untergeordnet.

Das Futures Wheel oder Zukunftsrad ist eine einfache Methode, deren Kern die Frage „Was wäre, wenn?“ ist. Mit ihr lassen sich die möglichen Auswirkungen von denkbaren zukünftigen Entwicklungen erschließen. Ein Beispiel: Wäre die Annahme „E-Scootern gelingt der Durchbruch im Massenmarkt“, resultiert daraus vielleicht eine Verbesserung der Parksituation in den Innenstädten, weil die Menschen weniger Auto fahren. Daraus ließe sich schließen, dass der Bau neuer Parkhäuser wenig sinnvoll ist.

Ausgehend von einer zentralen These entsteht ein exploratives Bild möglicher Entwicklungen, die dann weiter diskutiert werden können. Die Wahrscheinlichkeit, mit der diese Entwicklungen eintreten, ist dabei erstmal weniger relevant. Vielmehr geht es darum, den Möglichkeitssinn der Teilnehmer zu aktivieren. Das Futures Wheel ist also eine spezielle Form des Brainstormings. Ach ja. Klar ist übrigens, dass die Realität beim Thema E-Scooter momentan ziemlich anders aussieht als in der Beispiel-These.

Trends geben Hinweise auf die Zukunft, aber existieren sie überhaupt?
Um die meisten der erklärten Techniken anzuwenden, braucht man erst einmal Thesen und Annahmen, mit denen man arbeiten kann. Um diese zu entwickeln, haben die meisten Methoden der Zukunftsforschung eines gemeinsam: Sie extrapolieren Annahmen aus der Vergangenheit in die Zukunft. Extrapolation heißt, dass Prognosen auf der Grundlage unsicheren Wissens abgegeben werden.

Trends gelten dabei als Hinweise auf die Zukunft, die im Hier und Jetzt beobachtet werden können. So heißt es auf der Website des Zukunftsinstituts, einem der führenden Trendforschungsinstitute Deutschlands: „Trends sind Bewegungen ‚in eine Richtung‘. Sie zu beobachten ist Aufgabe des Trendforschers, der versucht, frühe Anzeichen und bestimmte Muster zu erkennen. Trends muss man nicht voraussagen. Sie finden nicht in der Zukunft, sondern in der Gegenwart statt: Es sind Veränderungen, die man nicht prognostizieren, aber identifizieren muss.“

Der Zukunftsforscher Christian Neuhaus von der Freien Universität Berlin attestiert Trends in einem Beitrag für die Zeitschrift für Zukunftsforschung sogar, dass es sie eigentlich gar nicht gibt. Trends würden nur für den Beobachter selbst existieren, meint Neuhaus, seien aber „als solche“ nicht in der Welt existent. Der Trendforscher gehe davon aus, dass die aktuelle Entwicklung sich in der nahen Zukunft fortsetzen wird, was – trotz Untermauerung durch Daten, Interpretation und Analyse – schlichtweg ein Glaube sei. Dennoch hält Neuhaus Trendforschung für alles andere als unnütz.

Was hilft die Zukunftsforschung?
Stattdessen eröffnet für Neuhaus der bewusste Umgang mit Trends und ihrer eingeschränkten Aussagekraft Chancen beim Entscheiden und Planen in Organisationen – allein schon deshalb, weil man sich durch die Trendforschung systematisch mit Entwicklungen, möglichen Einflussfaktoren und der Zukunft auseinandersetzt. Der Nutzen der Trends liegt für Neuhaus also in der Orientierungsleistung, die zu besseren Entscheidungen führt.

Für die Bundesregierung heißt das: Sie könnte das Orientierungswissen, das ihr die Zukunftsstudien liefern, für eine vorausschauende, gestaltende Politik nutzen – und etwa deutlich gezielter Förderprogramme starten oder Forschung unterstützen. Ob bisher aber wirklich handfeste Politik aus der Zukunftsforschung im Regierungsauftrag entstanden ist, ist ein unsicheres Ding. Wie die Zukunft selbst eben.

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Smartes Internet geht auch ohne 5G und neue Mobilfunkmasten (erschienen bei Perspective Daily am 11.10.2019)

Bild: The Things Network


Wenn der Kühlschrank mit der Smartwatch … »The Things Network« aus den Niederlanden lässt Dinge miteinander kommunizieren – günstig und umweltschonend. Sogar die Deutsche Bahn nutzt es schon.

Stell dir vor, alles wäre in Zukunft vernetzt: Dein Auto spricht mit anderen Autos die Verkehrslage ab, deine Smartwatch sendet deinem Arzt dein Langzeit-EKG und Industrieroboter kommunizieren an eine Leitstelle Auslastung und Verschleiß – und bitten, wenn nötig, um Reparatur …

Das sind nur ein paar Anwendungen aus der Vision des schlauen Internets der Zukunft, einem Internet der Dinge1, an dem gerade fleißig gearbeitet wird. Ob autonomes Fahren, Telemedizin oder die Industrie 4.0 – sie alle stehen dabei vor einem Problem: Wenn Geräte mit Geräten kommunizieren, fallen enorm viele Daten an. Und das ist den Mobilfunkanbietern in Deutschland 6,5 Milliarden Euro wert – der Preis, den sie für den aktuell schnellsten Mobilfunkstandard 5G dieses Jahr an die Bundesregierung gezahlt haben. Ein stolzer Preis, den sie sicher auf den Kunden umschlagen werden.

Doch schlaues Internet geht auch ohne 5G, wie ein findiger Niederländer mit seiner Initiative The Things Network (TTN) zeigt – und das schon heute weltweit.

So funktioniert »The Things Network« schon heute

86.550 Mitglieder (Stand: Oktober 2019) sind heute schon Teil des alternativen Netzwerks. Gegründet haben es Wienke Giezeman und Johan Stokking bereits 2015.

Giezemans Lösung2 setzt auf Vernetzung auf der Grundlage der lizenzfreien Funktechnik LoRa3. LoRaWANs (Long Range Wide Area Networks) können kleinere Datenmengen über Entfernungen von gut 10 Kilometern von einfachen Sensoren über Gateways auf einen Netzwerkserver und von dort in die Cloud übertragen – und wieder zurück. Der Netzwerkserver kann öffentlich, privat oder als On-Site-WAN (Daten verlassen den physikalischen Standort nicht) bereitgestellt werden. Letzteres ist vor allem für Anwendungen interessant, die sensible Daten nutzen – etwa in der Industrie2.

Die Infrastruktur von The Things Network ist dabei für alle kostenlos zugänglich. Eine Internetpräsenz dient den Teilnehmern als Anlaufpunkt für Diskussion, Hardware oder Support.

Das klingt nach einem Frickler-Projekt für begeisterte Netzwerk-Nerds? Weit gefehlt.

Technik für alle
Dass The Things Network funktioniert, beweist allein der rege Zulauf von Privatnutzern. Auch eine eigene jährliche Konferenz in Amsterdam zu dem Thema gibt es bereits. Und nun entdecken auch Kommunen und die Industrie die Alternative zu 5G. So hat beispielsweise die Deutsche Bahn einen Teil ihrer Bahnhofsuhren an ein LoRaWAN angeschlossen, damit sie immer pünktlich gehen. Im Kundenzentrum der Bahn scheinen Uhrenausfälle noch immer für ziemlich viel Unruhe zu sorgen.

Doch The Things Network will vor allem abseits der großen Unternehmen die Ideen des Internets von morgen befeuern – und zwar auch dort, wo Standards wie 5G noch lange auf sich warten lassen dürften: etwa auf dem Land, wo Bauern in Gebieten mit schlechtem Internet Tiere tracken oder ihr Weinfeld vollautomatisch bewässern können.

Es sind die Mitglieder der The-Things-Network-Community, die diese Anwendungen finden, erstellen und miteinander teilen. Und sie sind es auch, die den Flickenteppich der LoRaWANs in Deutschland mit ihrem Engagement ausfüllen. Gemeinschaftsarbeit statt Industriestandard: The-Things-Network-Gründer Wienke Giezeman fasste das im Rahmen eines TED-Vortrags 2017 so zusammen: »Wir sind der Beweis dafür, dass, wenn Sie Technologie für viele Menschen zugänglich machen, Lösungen für echte Probleme gefunden werden und nicht nur Lösungen, die ausschließlich auf Geschäftsmodellen basieren.«

Eine vollwertige Alternative zu 5G ist The Things Network allerdings nicht. Einerseits aufgrund der deutlich geringeren Datenrate, andererseits auch weil das Protokoll für Echtzeitanwendungen ungeeignet ist – dafür sind die Verzögerungen (Latenzen) bei der Datenübertragung einfach zu hoch.

Das ein oder andere (ganz persönliche) Vernetzungsproblem lässt sich mit LoRa aber sicher ganz praktisch und energiesparend lösen.


1 – Das »Internet der Dinge« (IdD) ist ein Sammelbegriff für Technologien einer globalen Infrastruktur, die es ermöglicht, Gegenstände miteinander zu vernetzen.
2 – Giezeman betreibt über »The Things Industries« ein IoT-Unternehmen, das beim Aufbau von »LoRaWAN«-Strukturen hilft. Ganz uneigennützig ist das Projekt also nicht.
3 – Das »LoRa«-Netzprotokoll wurde für sogenannte »Wide Area Networks« (WANs) entwickelt, für Netzwerke also, die sich über größere Entfernungen erstrecken. Die Datenübertragungsrate beträgt bis zu 50 Kilobytes pro Sekunde. Ein weiterer Vorteil: Mit »LoRa« lässt sich eine gute Gebäudedurchdringung erzielen. Die ist sogar besser als bei LTE.
4 – Für Sicherheit sorgt eine Ende-zu-Ende-Verschlüsselung mit 128 Bit-AES.

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