Google ist das wohl derzeit spannendste Unternehmen der Welt. Wer möchte da nicht gerne einen Blick hinter die Kulissen werfen? Thomas Schulz, langjähriger USA-Korrespondent des Spiegel und Silicon-Valley-Reporter, hat seine exklusiven Kontakte genutzt und mit seinem neuen Buch „Was Google wirklich will“ das intime Portrait eines Unternehmens gezeichnet, das von der Umwälzung der Gesellschaft durch Technologie regelrecht besessen ist. Gut für uns, oder?
Im Buch von Thomas Schulz geht es erstaunlich oft um Wandersandalen. Oft stecken darin nackte Füße, manchmal auch Füße in bunten Ringelsocken; alles eine Frage des persönlichen Geschmacks und der Bequemlichkeit. Getragen werden diese Sandalen von Menschen, die im Googleplex, dem Hauptquartier von Google im Silicon Valley unter der kalifornischen Sonne, von einer Arbeitsgruppe zur nächsten eilen. Bei Google ist also nicht immer alles schön, dafür sind alle ständig in Bewegung. Doch von vorn.
Das Buch von Thomas Schulz – nüchtern und sachlich geschrieben wie es sich für einen Wirtschaftsjournalisten gehört – fühlt sich trotzdem ein bisschen an wie eine Reise in eine andere Welt. Schuld daran ist vor allem Googles Unternehmensphilosophie, der Schulz in vielen Gesprächen mit führenden Mitarbeitern nachspürt und die ein gänzlich neues Denken propagiert. So fordert die Unternehmensführung völlig neue Lösungsansätze und hat den Raum für wilde Technikträume systematisch in die Unternehmenskultur integriert. Nicht anders ist es zu erklären, dass das Unternehmen eine derartige Fülle von innovativen Produkten nicht nur erdacht, sondern auch in die Realität umgesetzt hat.
Schulz beschreibt die Entwicklung von Google vom Startup, das als Erstes auf die Suchmaschine als Eingangstor ins Internet setzt, um verteiltes Wissen neu und effizient zu strukturieren (und ganz nebenbei Milliarden von Werbeeinnahmen zu generieren), zum globalen Plattform-Anbieter, der sein Ökosystem aus Anwendungen, Diensten und Produkten konsequent und vor allem branchenübergreifend weiterentwickelt. Ob intelligente Dienste wie Google Maps, Street View, Gmail oder Google Translate, Plattformen wie Android und AMP oder vollkommen neue Arten von Transportmitteln wie das selbstfahrende Auto, Google denkt die intelligente Auswertung von Daten in völligen neuen Kategorien und Dimensionen. Dabei schreckt Google – als IT-Unternehmen – z. B. auch nicht vor der Revolution der Medizin zurück, angefangen mit der Entwicklung einer Kontaktlinse, die den Blutzuckerspiegel misst bis zur antizipierten systematischen Überwindung der Grenze von Biologie und Nanotechnologie durch Roboter in der Blutbahn, die die Gesundheit von Menschen überwachen sollen, bevor sie überhaupt krank werden. Der Mut, alte Probleme völlig neu und frei von Wissensideologien zu denken, macht einen Großteil der Faszination des Unternehmens aus. „Moonshots“ heißen diese Experimente im Google-Jargon, die Labore dafür Google X, Google Brain, Jump, DeepMind und viele mehr.
Google ist das größte Datenexperiment der Welt. Und Google hat den Anspruch, das gesamte Wissen der Welt zu erfassen, intelligent aufzubereiten und an jedem beliebigen Ort verfügbar zu machen. Google möchte durch ein möglichst stark ineinandergreifendes Ökosystem aus Diensten, Produkten und Plattformen die Leitkultur für die digitale Revolution des 21. Jahrhunderts vorgeben. Die Forschheit, mit der das Unternehmen dabei vorgeht, macht jedoch vielen Angst. So fühlen sich in Europa viele Menschen vom Datenhunger Googles bedroht. Politiker, Datenschützer und Nutzer wehren sich gegen die vermeintliche informationelle Hegemonie eines US-Konzerns, der ein gigantisches Geschäftsmodell mit maschinenlesbaren Daten betreibt. Denn Googles Ambitionen bedrohen durchaus grundlegende Persönlichkeitsrechte oder stellen ihre Sinnhaftigkeit im digitalen Zeitalter in Frage. Die unternehmerische Interessenssphäre ragt weit in das Private hinein, was einen gesellschaftlichen Diskurs zwingend erforderlich macht. Das hat inzwischen auch Google erkannt und sich gegenüber Politik und Nutzern geöffnet.
Thomas Schulz greift diese Probleme in seinem Buch auf, doch in seinen Gesprächen mit fast ausschließlich führenden Mitarbeitern von Google, geht die kritische Distanz mitunter verloren. Das sind natürlich die beiden Gründer Sergey Brin und Larry Page, leitende Informatiker und Ingenieure wie Sebastian Thrun, erster Chef von Google X, und sein Nachfolger Astro Teller oder auch Christian Plagemann, Engineering Manager bei Google und verantwortlich für die Entwicklung des Bereichs Virtual Reality. Hinzu kommen Stimmen renommierter Wissenschaftler, vornehmlich der Universitäten Stanford und Berkeley, die als geistige Geburtsorte der Wirtschaftselite im Silicon Valley gelten. Geschildert wird die Geschichte von Google sowohl vor dem biografischen Hintergrund von Brin und Page als auch im Licht ihrer Prägung durch die kalifornische „Westküsten-Ideologie“ des Silicon Valley. Dabei werden so beiläufige wie interessante Aspekte zu Tage befördert, dass Brin und Page beide eine Montessori-Schule besucht haben. Der Ansteckungsgefahr euphorischer Exkurse, z. B. über die Zukunft des selbstfahrenden Autos, durch das die Zahl der Verkehrstoten drastisch gesenkt werden soll, begegnet Schulz oftmals mit einer realpolitischen Bestandsaufnahme zur Umsetzbarkeit, die neue verlässliche politische und gesellschaftliche Strukturen voraussetzt, und den damit verbundenen Fragen (Wer haftet für Unfälle? Was passiert bei mit den bei der Fahrt erhobenen Daten?).
Erst ganz zum Schluss des Buchs kommen vehementere Kritiker zu Wort wie Evgeny Morozov, Frank Schirrmacher, der Ökonom und Zukunftsforscher Jeremy Rifkin oder auch EU-Kommissar Günther Öttinger. Die Bandbreite der Kritik reicht von pauschaler Kulturkritik, über Warnungen vor einem neuen ungebändigten „Plattform-Kapitalismus“ bis hin zur Vorhersage eines neuen Gesellschaftssystems durch die von Google vorangetriebene technologische Umwälzung.
Dieser Spannung zwischen der Begeisterung über die unbändige und unkonventionelle Innovationslust Googles einerseits und der Unsicherheit angesichts einer dermaßen rasanten technologischen Entwicklung, deren Folgen für die Gesellschaft noch überhaupt nicht abzusehen sind, andererseits, kann sich auch der Leser nicht entziehen. Die im Titel aufgeworfene Frage „Was Google wirklich will“ kann Schulz naturgemäß nur in groben Zügen skizzieren, da Google konsequent auf unausgetretenen Pfaden wandelt. Wer weiß schon was die Zukunft bringt? Niemand so wirklich. Doch mit der Lektüre entwickelt der Leser durchaus ein realistisches Gespür dafür, was in Zukunft möglich sein könnte. Ladies and gentlemen, please fasten your seatbelts.
„Was Google wirklich will“, von Thomas Schulz
336 Seiten
Deutsche Verlags-Anstalt
2. Auflage, Oktober 2015
Preis: 19,99 €