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Wenn das Haus auf Omi aufpasst

Bild: CITEC

Viele ältere Menschen möchten ihre letzten Lebensjahre gerne in den eigenen vier Wänden verbringen. Doch körperliche und/oder geistige Gebrechen schränken die Selbstständigkeit oft ein, was am Ende dann doch zum ungewollten Umzug ins Pflegeheim führt. Können moderne technische Assistenzsysteme das auffangen? Und wie sieht dann das Wohnkonzept der Zukunft für ältere Menschen aus?

Wenn bei Renate Midau, 73, morgens der Wecker klingelt, bleibt sie meist noch ein paar Minuten länger liegen. Erst nachdem die Jalousien automatisch nach oben gefahren sind und das erste Tageslicht ins Zimmer dringt, bewegt sie sich langsam hinüber zum Bettrand und setzt sich auf. Renate Midau wohnt in einem einfachen aber modernen Mehrfamilienhaus am Kölner Stadtrand. Sie lebt gern hier, auch weil sie hier aufgewachsen ist und noch einige Freunde und Bekannte in der Umgebung hat. Ihre Kinder sind beruflich und familiär stark eingespannt und kommen – wie das halt so ist – eher selten zu Besuch.

Ein bisschen schmerzt ihr noch der Steiß von letzter Woche. Da wurde ihr mit einem Mal schummrig und plötzlich lag sie flach auf dem Boden. Zum Aufstehen hat die Kraft nicht mehr gereicht, aber die in der Decke dezent verbauten Kameras haben den Sturz erkannt und sofort die Notrufzentrale alarmiert. Über einen kleinen Wandlautsprecher im Flur hat man mir ihr gesprochen, hat sie beruhigt. Ein halbe Stunde später war jemand da. Nach einer kurzen ärztlichen Versorgung und einem Gespräch war das Schlimmste überstanden.

Renate Midau findet, dass sie im Alltag eigentlich ganz gut alleine klarkommt, auch weil ihre Kinder ein paar kluge Helferlein für sie in der Wohnung installiert haben. Das geht schon morgens los. Nach der Körperpflege meldet sich in der Regel ihr intelligenter Tablettenspender mit einem kurzen Piepen zu Wort. Der ambulante Pflegedienst, der sie zwei Mal die Woche besucht, richtet ihr das Gerät regelmäßig ein und füllt die Medikamente nach. So bekommt sie immer nur die Tabletten ausgegeben, die sie zur jeweiligen Tageszeit auch einnehmen muss. Früher war das manchmal ein ganz schönes Durcheinander und Gekruschtel oder sie hat die Tabletten einfach ganz vergessen. Der Arzt hat dann immer mit ihr geschimpft, kann ja auch schnell mal ins Auge gehen so was. Ihre Kinder haben außerdem bemerkt, dass sie nach dem Kochen manchmal den Herd nicht ausschaltet, und eine Wärmesensorik installieren lassen; die springt bei Überhitzung jetzt ein und gibt ihr und den Kindern ein gutes Gefühl.

Seit Kurzem kann sie außerdem noch auf eine ganz besondere Hilfe zählen. Tommi ist ein virtueller Assistent auf dem Fernsehbildschirm, mit dem sie in natürlicher Sprache kommunizieren kann und der ihre Termine regelt, ihr die Zeitung vorliest oder sie an ihren Hausschlüssel erinnert. Sie mag Tommi gern, weil er ihre Bedürfnisse immer besser versteht und viele Dinge inzwischen genau so macht, wie sie das gerne hätte, ohne sich anderweitig in den Vordergrund zu drängen. Tommi plant auch ihr wöchentliches interaktives Fitness-Programm ein, das sie von ihrem Fernsehsessel aus oder auch im Stehen vor dem Fernseher absolvieren kann – je nach Tagesform. Ein Armband an ihrem Handgelenk erfasst ihre Körperbewegungen. So kontrolliert das System, dass sie die Übungen richtig ausführt. Gerade im Winter, wenn sie nicht immer vor die Tür will und ihre Gelenke oft schmerzen, ist das genau das Richtige für sie. Das System überträgt ihre Vitaldaten auch gleich noch an den Hausarzt, damit der über ihren Gesundheitszustand informiert ist. Sie geht trotzdem noch regelmäßig zum Arzt, aber durch das System fallen viele Routineuntersuchungen weg.

Reality Check
Renate Midau und vor allem die Wohnung aus unserem Beispiel gibt es im echten Leben (noch) gar nicht. Aber so oder so ähnlich könnte das Wohnen im Alter der Zukunft aussehen. Zumindest wenn es nach den derzeitigen Vordenkern für technikgestütztes Wohnen geht. Die Idee der „Alltagsunterstützenden Assistenzlösungen (AAL)“, die sich nahtlos in den Alltag der Menschen integrieren sollen, existiert schon seit den 90er Jahren. Derzeit erlebt das Konzept eine kleine Renaissance, denn Fachleute suchen nach Lösungen für die Folgen des demografischen Wandels. 2,6 Millionen Menschen waren im Dezember 2013 laut Angaben des Statistischen Bundesamts in Deutschland auf Pflege angewiesen. In den kommenden anderthalb Jahrzehnten soll diese Zahl um eine knappe weitere Million auf rund 3,6 Millionen Menschen steigen. Während die Zahl der Pflegebedürftigen zunimmt, ist die Zahl der Menschen, die derzeitig in der Pflege tätig sind, weiter rückläufig. Der „Themenreport Pflege 2030“ der Bertelsmann-Stiftung warnt vor einer gravierenden Versorgungslücke, und das obwohl bereits 71 Prozent der pflegebedürftigen Personen Ende 2013 in den eigenen Wänden umsorgt wurden. Der Stellenwert der ambulanten häuslichen Pflege wird damit weiter zunehmen. Neben Angehörigen und ambulanten Diensten soll jetzt auch die Technik ihren Beitrag leisten.

Forschungsvisionen
Das Forschungsprojekt „KogniHome – die mitdenkende Wohnung“ des Exzellenzclusters für kognitive Interaktionstechnologie (CITEC) an der Universität Bielefeld gehört zu den derzeit modernsten Testszenarien für umgebungsgestütztes Wohnen in Deutschland. Die Vision des Projekts um den Neuroinformatiker Prof. Dr. Helge Ritter ist eine Wohnung, die durch das Zusammenspiel einer Vielzahl komplexer technischer Assistenzsysteme immer mehr über die Eigenheiten des Bewohners lernt und in der Folge somit besser auf seine Bedürfnisse eingehen kann – dem erdachten Prinzip nach ein Leben lang. So soll eine intelligente Küche Hilfe beim Kochen leisten, der Eingangsbereich mit interaktivem Spiegel Tipps für die passende Kleiderwahl in Abhängigkeit von der Witterung bereithalten und ein persönlicher Trainer in Form eines virtuellen Avatars zur sportlichen Betätigung im eigens konzipierten Trainingssessel animieren. Die Initiatoren des Projekts legen dabei insbesondere auf die Vernetzung der verschiedenen Systeme wert, die sich untereinander austauschen und so immer passgenauere Vorschläge unterbreiten können. So kann die intelligente Küche das in der Online-Tageszeitung bei der morgendliche Lektüre markierte Rezepte für die Mittagszubereitung vorschlagen, ggf. eine Einkaufsliste erstellen und sie zur Erinnerung an den Spiegel weitergeben.

Der sog. „Rezeptspurhalteassistent“ – ein Begriff in Anlehnung an den Fahrspurassistenten in der Automobilbranche – soll durch intelligentes Eingreifen dafür sorgen, dass Rezepte auch sicher gelingen. Hauptaugenmerk der Forscher liegt dabei vor allem auf einer möglichst intuitiven Bedienung, auch für technisch Ungeübte: „Wir versuchen langfristig auf komplizierte Schnittstellen zu verzichten, wie z. B. beim Smartphone oder dem Tablet, wo man sich erst durch diverse Menüs klicken muss, um eine Einstellung zu finden“, sagt Projektleiter Thorsten Jungeblut. Stattdessen sollen Sprache und Gestik zum Einsatz kommen. Jedoch müssen für eine umfassende Vernetzung jede Menge (persönliche) Daten erhoben werden. Was geschieht mit ihnen? Thorsten Jungeblut grenzt sich beim Thema Datenschutz klar von den Geschäftsmodellen großer IT-Konzerne wie Google oder Apple ab, die mit gesammelten Daten Geld verdienen möchten: „Wir wollen weg vom Gedanken des Cloud Computing. Die Daten sollen in der Wohnung verbleiben.“ Doch nicht nur Fragen der Technik müssen am CITEC gelöst werden, sondern die direkte Interaktion von Mensch und Technik wirft auch jede Menge ethische Probleme auf: Darf z. B. die intelligente Tür, die an den vergessenen Haustürschlüssel erinnert, dem dementen Bewohner das Verlassen der Wohnung verbieten, weil er sich dadurch einer gesundheitlichen Gefahr aussetzt? Thorsten Jungeblut sagt: „Nein.“ Dabei betont er, dass er und seine Kollegen diese Fragen am Institut kontrovers diskutieren würden. Das Ergebnis seien oftmals ausgeklügelte Zwischenlösungen, die im Fall einer intelligenten Tür z. B. so aussieht, dass die Tür erst einen Angehörigen benachrichtigt, der dann per Telefon mit dem Bewohner spricht und ihm ggf. von einem Ausgang abrät.

Unterstützung vs. Bevormundung
Für Jutta Kaas, 77, ist das alles nichts mehr, wie sie später freimütig zugeben wird. Trotzdem steht sie – als freiwillige Probandin ganz im Dienst der Wissenschaft – gerade in der intelligenten Küche des „KogniHome“-Forschungsprojekts und lauscht den Anweisungen der blechernen Computerstimme. Als Nächstes soll sie 100 Gramm Milchreis in die metallene Ofenform geben. Eine virtuelle Markierung in Form eines grünen Kreises auf der Herdplatte signalisiert ihr, wo sie die Form abstellen soll. Auf einem Bildschirm, der die gesamte Herdrückseite bildet, wird ihr dynamisch die Menge angezeigt, die sie bereits hinzugegeben hat. Der rote Balken steigt langsam nach oben und wird beim Erreichen der Ziel-Füllstandsmarke grün. Doch Jutta Kaas passt einen Moment nicht auf und gibt etwas zu viel Reis hinein. Während sie das Ergebnis korrigieren möchte, ist das System bereits zum nächsten Schritt – dem Einfüllen der Milch – übergegangen und bringt Jutta Kaas damit aus dem Konzept. „Kein Problem“, sagt der Projektleiter und drückt zuerst auf den Notausknopf und tippt dann auf das bereitliegende Tablet, um den vorherigen Rezeptschritt noch einmal aufzurufen. Dann halt nochmal von vorn. Beim nächsten Versuch klappt alles und nach Zugabe der letzten Zutat fährt auch der Ofen vollautomatisch auf die im digitalen Rezept hinterlegte Temperatur hoch und stellt die Zeituhr richtig ein. Doch nicht immer sind die Kameras und Sensoren auf alle Eventualitäten in der näheren Umgebung vorbereitet oder interpretieren Informationen falsch. Mal stört das einfallende Sonnenlicht die Sensorik, ein andermal steht Frau Kaas kurz davor, sich versehentlich auf der Herdplatte abzustützen. Wie soll das System jetzt reagieren? Eine Vielzahl solcher „unsicherer“ Situationen sind denkbar. Ein intelligentes und vor allem sicheres System muss damit umgehen können. Vom schnörkellosen Zugang von Jutta Kaas zur Technik können die Forscher vom CITEC jedenfalls sehr viel lernen. Wie die intelligente Küche in Zukunft tatsächlich aussehen könnte, ist ungewiss: „Die Idee ist, dass vielleicht in fünf Jahren, vielleicht nicht das System als Ganzes, aber Einzelaspekte davon in einer Küche integriert sein werden“, sagt Christof Elbrechter, im Rahmen von „KogniHome“ zuständig für die digitale Objekterkennung. So weit die Idee.

Der lange Weg zum Verbraucher
Doch der Technologietransfer gestaltet sich offenbar nach wie vor schwierig, das zeigen auch die aktuellen Marktzahlen. Die Umsätze der Hersteller von AAL-Lösungen sind überschaubar. Laut dem Statistikportal Statista wurden 2016 im Segment AAL etwa 29 Mio. Euro umgesetzt. Prognostiziert wird ein Marktvolumen in Höhe von 365 Mio. Euro bis zum Jahr 2021. Damit würde bis 2021 in ca. 1,2 Millionen Haushalten AAL-Technologie zum Einsatz kommen, das wären gerade mal drei Prozent aller Haushalte in Deutschland. Eine Markteinschätzung gilt aber als schwierig, auch weil sich die Produkte und Dienstleistungen erst nach und nach entwickeln. Diesen Eindruck bestätigt auch René Stephan vom Forschungszentrum Informatik (FZI) in Karlsruhe, das auf den Praxistransfer von Informatiktechnologien spezialisiert ist. Zwar würden bereits viele AAL-Produkte über das Internet vertrieben, aber viele davon seien einfach zu komplex, sodass der Vertrieb nur bedingt funktioniere. Ein vom Kunden oftmals gewünschtes „Fertigsystem“ gebe es noch nicht, auch weil die möglichen Herausforderungen und Szenarien zu individuell seien. Das Webportal „Wegweiser Alter und Technik“ des FZI Karlsruhe liefert Interessenten einen ersten Überblick über die derzeit erhältlichen Lösungen. Ungefähr 300 Produkte werden dort derzeit geführt, vom seniorenfreundlichen Handy mit extra großen Tasten, dem One-Touch-Dosenöffner, Sturzerkennungsmatten oder Ortungsgeräten für weglaufgefährdete Menschen. Auch Systeme für Angehörige zur Tagesablaufkontrolle per Smartphone-App gibt es. Doch es hat noch einen weiteren Grund, warum sich AAL-Produkte so schwer vermarkten lassen: „Altern und Hilfsbedürftigkeit ist nicht sexy. Wenn Sie AAL-Produkte kaufen gestehen Sie sich damit ganz oft ein, dass sie hilfsbedürftig sind“, konstatiert René Stephan. Die eigene Stigmatisierung halte viele potenzielle Kunden von einem Kauf ab, auch wenn die Produkte ihnen helfen könnten. Am FZI setzt man deshalb vor allem auch auf eine verstärkte Beratung in den Kommunen. Derzeit gibt es bundesweit knapp 20 staatlich geförderte Beratungsstellen, die Senioren und Angehörigen den Zugang zur Technik erleichtern sollen.

Wer soll’s bezahlen?
Auch branchenintern wird noch darüber gestritten, wer von den AAL-Stakeholdern die Rolle des Technologie-Zugpferds übernehmen soll. Auf dem AAL Fachkongress 2016 in Karlsruhe betonte Carmen Mundorff von der Architektenkammer Baden-Württemberg, dass die Prioritäten der Wohnungswirtschaft in erster Linie darin lägen, die „Rufe nach bezahlbarem Wohnraum“ zu erfüllen. Dafür müssten auch Abstriche bei der Technik gemacht werden. Auch der Pflegeverband AWO relativiert den ungebremsten Glauben an die neue Technik: AAL sei „keine Lösung des Pflegenotstandes“, sagt Markus Broeckmann, Geschäftsführer der AWO Pfalz. Harald Röckler von der Krankenkasse AOK Mittlerer Oberrhein stellt heraus, dass AAL-Lösungen „individuelle Hilfen“ seien, für die eine „Entscheidung pro Einzelfall“ notwendig sei. Die Zurückhaltung der Akteure mag auch damit zusammenhängen, dass es an langfristigen Feldstudien über den wirtschaftlichen und medizinischen Nutzen von AAL-Systemen derzeit noch mangelt, ein Nachweis, der z. B. für die Aufnahme in den Leistungskatalog der Kranken- und Pflegekassen erbracht werden muss. Am Ende bezahlt also momentan noch ausschließlich der Endverbraucher.

Verzahnung von Technik und sozialem Umfeld
Senioren-WGs und -Genossenschaften, Mehr-Generationen-Wohnen und betreutes Wohnen sind bekannte Gegenentwürfe zum Pflegeheim und oft auch ein wirksames Mittel gegen die Vereinsamung. Technik kann auch hier einen Mehrwert bieten oder gute Kontakte und Nachbarschaften sogar erst befördern, z. B. über den Austausch über eine gemeinsame Kommunikationsplattform. Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend erprobt im Rahmen des Modellprogramms „Zuhause im Alter“ neue Formen des generationenübergreifenden Zusammenlebens. In Modellprojekten werden bestehende Wohnräume zu barrierefreien Quartieren mit Begegnungsräumen, Pflegeausstattung und dem Zugriff auf alltagsunterstützende Beratungs- und Dienstleistungsangebote, z. B. für Hilfe bei der Haushaltsführung, umfunktioniert. Auch die Technik hat hier ihren festen Platz.

Renate Midau hat jedenfalls die passende Lösung für sich gefunden. Das merkt sie vor allem daran, dass sie die neue Technik im Alltag überhaupt nicht mehr wahrnimmt.