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Die Daten-Doktoren

Bild: DVA

In seinem neuen Buch „Zukunftsmedizin“ stellt Thomas Schulz die Vision des Silicon Valley für die Medizin von morgen vor, und dabei wird klar: Für die Tech-Entrepreneure ist Gesundheit in Zukunft vor allem eine Frage von Daten.

Die Informatik erobert die Medizin. So nüchtern ließe sich das Buch von Thomas Schulz zusammenfassen. Doch in der Sprache der Tech-Visionäre aus Kalifornien klingt die neue Ära der Computermedizin eher nach der Verwirklichung einer wilden Science-Fiction-Utopie als an schnöde Rechenleistungen. Das Silicon Valley, so möchte man fast sagen, träumt die Medizin neu, und dieser Traum erwächst aus der radikal neu gedachten systematischen Erhebung, Auswertung und Verknüpfung von Daten über den menschlichen Körper.

Es ist die Idee von einem Körper, der in seine kleinsten digitalen Einheiten aufgelöst wird und unter dieser Perspektive als frei programmierbares „Betriebssystem“ erscheint. Was sollte die DNA anderes sein als ein ausgeklügelter „Code“ für die Grundbausteine des Lebens? Und dienen nicht alle Körperfunktionen der Übertragung von Informationen wie auf einer (digitalen) Datenautobahn? Funktioniert die CRISPR/Cas-Methode nicht im Prinzip wie ein „Textverarbeitungsprogramm am Computer“ nach dem Befehl „Suchen und Ersetzen“?

Und auch wenn sich mit dem Ende des Humangenomprojekts 2003 der Traum von einem einfachen genetischen Determinismus nicht erfüllt hat, so war das Projekt doch der Anfang für eine neue systematische Vermessung des menschlichen Körpers. Heute stehen neben der DNA auch das Proteom (Gesamtheit aller Proteine des menschlichen Organismus) und das Mikrobiom (Gesamtheit aller Mikroorganismen im menschlichen Organismus) im Zentrum wichtiger Forschungen des Wissenschaftszweigs der „Systembiologie“, die mithilfe von Computermodellen den Körper als Ganzes zu erfassen versucht.

Für ihre Vision einer neuen digitalen Medizin gilt im Silicon Valley das Prinzip der „Konvergenz“, d. h. das Zusammenfließen von Erkenntnissen aus unterschiedlichen Wissenschaftsgebieten wie der Genetik, Biotechnologie, Medizin und Informatik zu neuen Ansätzen der Wissenserschließung und -aufbereitung. In diesen Tagen sollen das maschinelle Lernen und die künstliche Intelligenz endgültig das Zeitalter einer neuen Biomedizin einläuten, deren langfristige Erfolge z. B. so aussehen könnten: Abwehrzellen werden gentechnisch gezielt gegen Tumoren hochgerüstet, neue diagnostische Bildgebungsverfahren liefern Live-Einblicke in biologische Nanoprozesse und hochaufgelöste Bilder des Körpers fördern Zelltypen zu Tage, die bisher noch überhaupt nicht bekannt sind.

Hinter all diesen Bemühungen steht der Traum von einer personalisierten Medizin, also weg von Massentherapien und -therapeutika, die für den Patientenschnitt eine möglichst gute Wirksamkeit bei möglichst geringen Nebenwirkungen versprechen, hin zur fein auf das Individuum abgestimmten Präzisionsmedizin. Die Grundlage dafür: Daten, Daten und nochmals Daten.

Neu an der aktuellen Entwicklung ist auch, dass die geplante „Revolution“ der Medizin diesmal von Start-ups ausgeht, Biotechnologie-Startups, die damit ein Hochrisikogeschäft eingehen, da große Durchbrüche in der Medizin relativ selten sind. Bei einem möglichen Erfolg zur Behandlung von Krebs oder Alzheimer, Bereiche also, in denen die „konventionelle“ medizinische Forschung schon seit Jahrzehnten nur mühsam vorankommt, winken jedoch Milliardengewinne. Es ist eine riskante Wette, doch im Silicon Valley sehen sie die Zeit für einen datengetriebenen medizinischen Paradigmenwechsel jetzt gekommen. Und der Wettlauf ist in vollem Gange.

So will das Medizin-Unternehmen Moderna nicht eine einzige Therapie, sondern gleich Hunderte davon entwickeln. Das Unternehmen sieht sich als „Medizin-Plattform“ und vertritt den Anspruch, die gesamte Biologie des Körpers systematisch verstehen und medizinisch manipulieren zu wollen. Der Schlüssel dazu liegt für die Forscher in der mRNA des Körpers, die eine zentrale Rolle bei der in der DNA codierten Proteinbiosynthese spielt. Moderna entwickelt dabei „weder chemische Lösungen (d. h. Moleküle wie in der Pharmaindustrie) noch biologische Lösungen (wie etwa Antikörper oder rekombinante Proteine). Stattdessen wollen die Moderna-Forscher, wie in der IT üblich, eine Art Code, also Anweisungen schreiben, die die Zellen so programmieren sollen, Proteine herzustellen und Krankheiten zu bekämpfen. Damit wird der Körper zur eigenen Medikamentenfabrik“, schreibt Schulz.

Moderna ist nur ein Beispiel für die neue Art, Medizin zu denken. Was im ersten Moment faszinierend klingt, muss sich in langjährigen klinischen Studien erst noch bewähren. Doch es gibt bereits erste Erfolge – und die Milliarden der Wagniskapitalgeber fließen.

So arbeitet auch Google mit Verily an einer „Infrastruktur für die digitale Gesundheitswelt“, die den Menschen in seinem Innersten immer genauer vermessen will, z. B. mithilfe von minituarisierten Sensoren, die am Handgelenk getragen, in der Kontaktlinse verbaut oder auch in der Badewanne installiert sind. Alle Daten sollen verknüpft und spezifischen Krankheitsbildern zugeordnet werden. „Proaktive Medizin“ heißt das Zauberwort, mit der Krankheiten im Alltag erkannt werden sollen, bevor Sie ausbrechen. Die Daten der menschlichen Biologie sind dazu der Schlüssel. Auf einer (Cloud-)Plattform sollen sie zusammengeführt werden, KI und maschinelles Lernen besorgen die Analyse.

Doch bei aller Faszination über die neuen Möglichkeiten stellt Thomas Schulz auch die schwierigen Fragen. Was kann die digitale Medizin wirklich leisten und wer kann sie sich überhaupt leisten? Was fängt der Mensch mit seiner neu gewonnenen Macht an? Und wer profitiert am Ende wirklich davon? Die ethischen Fragestellungen sind gewaltig, sollte der Mensch einmal in der Lage sein, das eigene Erbgut zielsicher zu manipulieren oder sogar zu steuern.

Thomas Schulz liefert in seinem Buch unzählige Beispiele, wie die Medizin im Silicon Valley gerade neu erfunden wird. Das alles könnte dazu führen, dass wir vielleicht einmal 200 Jahre alt werden. Im Valley träumen sie sogar von der Unsterblichkeit. Und so wirkt Vieles im Buch von Thomas Schulz noch wie eine irreal anmutende Zukunftsvision, auch ein bisschen wie eine ganz eigene „Ideologie“ von Medizin – mit entsprechendem Beigeschmack. Gleichzeitig scheint der Traum von einer neuen technologischen Ermächtigung über den Körper wie ein greifbares Heilsversprechen, dessen Verwirklichung man keine Sekunde aufschieben will. Im Valley haben Sie den Mut (und vor allem das Geld) das zu tun. In Deutschland warten wir derweil seit knapp 15 Jahren auf die Umsetzung der elektronischen Gesundheitsakte.

Aufgrund der gewaltigen technologischen Veränderungen kann das Buch des Spiegel-Reporters, der die Entwicklung der Tech-Branche im Silicon Valley schon seit vielen Jahren journalistisch begleitet, nichts anderes sein als eine Diskussionsgrundlage, und dazu taugt es sehr gut. Dem Buch gelingt es, allgemeinverständlich dem Leser eine Idee davon mitzugeben, wie grundlegend anders Medizin in der Zukunft aussehen könnte.

Auch fordert Thomas Schulz Deutschland dazu auf, den schwierigen Weg einer digitalen Medizin unbedingt mitzugehen. Eine mögliche Strategie, dem unberechenbaren Wandel Herr zu werden zu, sieht er in einem Zitat aus einer Rede von Richard von Weizsäcker vom 24. Mai 1989 zum 40. Jahrestag des Grundgesetzes: „Wichtig ist eine ungehinderte Information und eine breite Bewusstseinsbildung. Möglichste viele sollten möglichst viel wissen.“

Thomas Schulz hat mit seinem Buch einen ersten wichtigen Beitrag dazu geleistet.

Hightech-Hippies im Geldrausch

Bild: Google

Google ist das wohl derzeit spannendste Unternehmen der Welt. Wer möchte da nicht gerne einen Blick hinter die Kulissen werfen? Thomas Schulz, langjähriger USA-Korrespondent des Spiegel und Silicon-Valley-Reporter, hat seine exklusiven Kontakte genutzt und mit seinem neuen Buch „Was Google wirklich will“ das intime Portrait eines Unternehmens gezeichnet, das von der Umwälzung der Gesellschaft durch Technologie regelrecht besessen ist. Gut für uns, oder?

Im Buch von Thomas Schulz geht es erstaunlich oft um Wandersandalen. Oft stecken darin nackte Füße, manchmal auch Füße in bunten Ringelsocken; alles eine Frage des persönlichen Geschmacks und der Bequemlichkeit. Getragen werden diese Sandalen von Menschen, die im Googleplex, dem Hauptquartier von Google im Silicon Valley unter der kalifornischen Sonne, von einer Arbeitsgruppe zur nächsten eilen. Bei Google ist also nicht immer alles schön, dafür sind alle ständig in Bewegung. Doch von vorn.

Das Buch von Thomas Schulz – nüchtern und sachlich geschrieben wie es sich für einen Wirtschaftsjournalisten gehört – fühlt sich trotzdem ein bisschen an wie eine Reise in eine andere Welt. Schuld daran ist vor allem Googles Unternehmensphilosophie, der Schulz in vielen Gesprächen mit führenden Mitarbeitern nachspürt und die ein gänzlich neues Denken propagiert. So fordert die Unternehmensführung völlig neue Lösungsansätze und hat den Raum für wilde Technikträume systematisch in die Unternehmenskultur integriert. Nicht anders ist es zu erklären, dass das Unternehmen eine derartige Fülle von innovativen Produkten nicht nur erdacht, sondern auch in die Realität umgesetzt hat.

Schulz beschreibt die Entwicklung von Google vom Startup, das als Erstes auf die Suchmaschine als Eingangstor ins Internet setzt, um verteiltes Wissen neu und effizient zu strukturieren (und ganz nebenbei Milliarden von Werbeeinnahmen zu generieren), zum globalen Plattform-Anbieter, der sein Ökosystem aus Anwendungen, Diensten und Produkten konsequent und vor allem branchenübergreifend weiterentwickelt. Ob intelligente Dienste wie Google Maps, Street View, Gmail oder Google Translate, Plattformen wie Android und AMP oder vollkommen neue Arten von Transportmitteln wie das selbstfahrende Auto, Google denkt die intelligente Auswertung von Daten in völligen neuen Kategorien und Dimensionen. Dabei schreckt Google – als IT-Unternehmen – z. B. auch nicht vor der Revolution der Medizin zurück, angefangen mit der Entwicklung einer Kontaktlinse, die den Blutzuckerspiegel misst bis zur antizipierten systematischen Überwindung der Grenze von Biologie und Nanotechnologie durch Roboter in der Blutbahn, die die Gesundheit von Menschen überwachen sollen, bevor sie überhaupt krank werden. Der Mut, alte Probleme völlig neu und frei von Wissensideologien zu denken, macht einen Großteil der Faszination des Unternehmens aus. „Moonshots“ heißen diese Experimente im Google-Jargon, die Labore dafür Google X, Google Brain, Jump, DeepMind und viele mehr.

Google ist das größte Datenexperiment der Welt. Und Google hat den Anspruch, das gesamte Wissen der Welt zu erfassen, intelligent aufzubereiten und an jedem beliebigen Ort verfügbar zu machen. Google möchte durch ein möglichst stark ineinandergreifendes Ökosystem aus Diensten, Produkten und Plattformen die Leitkultur für die digitale Revolution des 21. Jahrhunderts vorgeben. Die Forschheit, mit der das Unternehmen dabei vorgeht, macht jedoch vielen Angst. So fühlen sich in Europa viele Menschen vom Datenhunger Googles bedroht. Politiker, Datenschützer und Nutzer wehren sich gegen die vermeintliche informationelle Hegemonie eines US-Konzerns, der ein gigantisches Geschäftsmodell mit maschinenlesbaren Daten betreibt. Denn Googles Ambitionen bedrohen durchaus grundlegende Persönlichkeitsrechte oder stellen ihre Sinnhaftigkeit im digitalen Zeitalter in Frage. Die unternehmerische Interessenssphäre ragt weit in das Private hinein, was einen gesellschaftlichen Diskurs zwingend erforderlich macht. Das hat inzwischen auch Google erkannt und sich gegenüber Politik und Nutzern geöffnet.

Thomas Schulz greift diese Probleme in seinem Buch auf, doch in seinen Gesprächen mit fast ausschließlich führenden Mitarbeitern von Google, geht die kritische Distanz mitunter verloren. Das sind natürlich die beiden Gründer Sergey Brin und Larry Page, leitende Informatiker und Ingenieure wie Sebastian Thrun, erster Chef von Google X, und sein Nachfolger Astro Teller oder auch Christian Plagemann, Engineering Manager bei Google und verantwortlich für die Entwicklung des Bereichs Virtual Reality. Hinzu kommen Stimmen renommierter Wissenschaftler, vornehmlich der Universitäten Stanford und Berkeley, die als geistige Geburtsorte der Wirtschaftselite im Silicon Valley gelten. Geschildert wird die Geschichte von Google sowohl vor dem biografischen Hintergrund von Brin und Page als auch im Licht ihrer Prägung durch die kalifornische „Westküsten-Ideologie“ des Silicon Valley. Dabei werden so beiläufige wie interessante Aspekte zu Tage befördert, dass Brin und Page beide eine Montessori-Schule besucht haben. Der Ansteckungsgefahr euphorischer Exkurse, z. B. über die Zukunft des selbstfahrenden Autos, durch das die Zahl der Verkehrstoten drastisch gesenkt werden soll, begegnet Schulz oftmals mit einer realpolitischen Bestandsaufnahme zur Umsetzbarkeit, die neue verlässliche politische und gesellschaftliche Strukturen voraussetzt, und den damit verbundenen Fragen (Wer haftet für Unfälle? Was passiert bei mit den bei der Fahrt erhobenen Daten?).

Erst ganz zum Schluss des Buchs kommen vehementere Kritiker zu Wort wie Evgeny Morozov, Frank Schirrmacher, der Ökonom und Zukunftsforscher Jeremy Rifkin oder auch EU-Kommissar Günther Öttinger. Die Bandbreite der Kritik reicht von pauschaler Kulturkritik, über Warnungen vor einem neuen ungebändigten „Plattform-Kapitalismus“ bis hin zur Vorhersage eines neuen Gesellschaftssystems durch die von Google vorangetriebene technologische Umwälzung.

Dieser Spannung zwischen der Begeisterung über die unbändige und unkonventionelle Innovationslust Googles einerseits und der Unsicherheit angesichts einer dermaßen rasanten technologischen Entwicklung, deren Folgen für die Gesellschaft noch überhaupt nicht abzusehen sind, andererseits, kann sich auch der Leser nicht entziehen. Die im Titel aufgeworfene Frage „Was Google wirklich will“ kann Schulz naturgemäß nur in groben Zügen skizzieren, da Google konsequent auf unausgetretenen Pfaden wandelt. Wer weiß schon was die Zukunft bringt? Niemand so wirklich. Doch mit der Lektüre entwickelt der Leser durchaus ein realistisches Gespür dafür, was in Zukunft möglich sein könnte. Ladies and gentlemen, please fasten your seatbelts.

„Was Google wirklich will“, von Thomas Schulz
336 Seiten
Deutsche Verlags-Anstalt
2. Auflage, Oktober 2015
Preis: 19,99 €