Der viel zu rasante Fortschritt?

Bild: DAI Heidelberg

Im Rahmen des International Science Festival „Geist Heidelberg“ diskutierte Wirtschaftsjournalist Thomas Schulz mit Heidelberger Vertretern aus Wirtschaft und Medizin über die neue digitale Datenmedizin aus dem Silicon Valley.

„Was ist das nächste große Ding?“. Mit dieser Frage eröffnete der Spiegel-Journalist und langjährige Silicon Valley-Korrespondent Thomas Schulz (neues Buch: „Zukunftsmedizin“) seinen Vortrag über die neue digitale Medizin aus Kalifornien. Eine Frage, die dort offenbar täglich gestellt wird. Und um das herauszufinden, gibt es wohl nur einen Weg: „Follow the money“, so Schulz und ließ die Zahlen purzeln: 1 Milliarde US-Dollar Startkapital für „Grail“, einem Biotechnologie-Startup, das eine Krebs-Früherkennung per Bluttest entwickelt, 500 Millionen US-Dollar für die Erzeugung von menschlichen Organen aus dem 3D-Drucker, 600 Millionen US-Dollar für den Chan Zuckerberg Biohub, einem Gemeinschaftskonsortium der Universitäten Berkeley, UCSF und Stanford, das an der Entdeckung neuer Zelltypen arbeitet, und nochmal 1 Milliarde US-Dollar für Calico von Google, einem Biotechnologie-Unternehmen, das den menschlichen Alterungsprozess aufhalten will.

„Wenn Sie ein kluger Kopf sind und mit einer guten Idee zur Sparkasse gehen, dann bekommen sie dort vielleicht 500.000 Euro. Im Silicon Valley unter Umständen gleich 50 Millionen Dollar. Wo würden Sie dann hingehen?“, wies Thomas Schulz auf die extremen Unterschiede der Investment-Kultur in Deutschland und dem Silicon Valley hin, einer ganz besonderen Mischung aus „Utopismus und Kapitalismus“.

In seinem einführenden Vortrag betonte er vor allem die Schnelligkeit der Entwicklungen, die dort gerade stattfinden. Die Genschere CRISPR/Cas habe nach fünf Jahren Entwicklungszeit ihren ersten Einsatz am Menschen erlebt. Früher hätte so etwas mind. 30 Jahre gedauert, so Schulz. Die Entwicklung des Fortschritts verlaufe exponentiell, es gelte das Prinzip der „Konvergenz“, also das Zusammenfließen von Erkenntnissen aus unterschiedlichen Wissenschaftsbereichen. Dabei mache die Rasanz der Forschungen der letzten Jahre auch ihn nachdenklich. Selbst gestandene Größen der Tech-Szene würden mitunter einwerfen, man verstehe gar nicht mehr, was da eigentlich gerade passiert, verwies Schulz auf ein Gespräch mit Larry Page, dem Geschäftsführer von Google.

„Es ist der Mensch und nicht die Maschine, die uns rettet!“, gab es einen lautstark aus dem Publikum vorgetragenen Einwand. Thomas Schulz bat um Geduld, verwies auf die nachfolgende Diskussionsrunde und lies dann Beispiele folgen, wo die Maschine erwiesenermaßen besser sei als der Mensch, zum Beispiel beim Hautkrebs-Screening und dem Erkennen von krankhaften Strukturen im Allgemeinen. Brauchen wir also in Zukunft vielleicht gar keine Radiologen mehr?

An diesem Punkt traten Prof. Dr. med Jürgen Debus von der Radiologischen Universitätsklinik Heidelberg und Dr. Friedrich von Bohlen, Geschäftsführer von Molecular Health, einem Unternehmen für datengestützte Präzisionsmedizin, auf. „Das ist was dran“, konstatierte Jürgen Debus nüchtern. Die Frage sei aber: „Was mache ich daraus?“. Die Maschine könne vieles besser, sie sei in vielem sicherer, aber sie sei eben nicht intelligent. Eine Maschine finde statistische Korrelationen (Wahrscheinlichkeitszusammenhänge), aber die Kausalität (Beziehung zwischen Ursache und Wirkung), die müsse immer noch der Mensch herstellen. „Mehr Freiraum für Entscheidungen“, wie Thomas Schulz es formuliert, würden die Maschinen aber in jedem Fall liefern.

Friedrich von Bohlen sieht im Computing die nächste große Medizin-Revolution, die „völlige neue Dimensionen“ in der Medizin sichtbar mache, z. B. neue Muster von Mutationen in der Krebsdiagnostik, die sich dann doch mit Verlaufsdaten und Lifestyle-Daten koppeln ließen.

Jürgen Debus betonte die Notwendigkeit „den Patienten insgesamt zu modellieren“ und dazu seinen möglichst viele Daten unabdingbar. Der Wissensschatz der Medizin sei heute so groß, dass ihn kein Mensch mehr überblicken könne. Die Radiologen von heute seien dermaßen spezialisiert, dass für die Bestrahlung eines Hirntumors und die Bestrahlung eines Prostatatumors zwei unterschiedliche Experten notwendig seien, die auf ihrem jeweiligen Fachgebiet kaum miteinander kommunizieren könnten.

Doch der freie Umgang mit medizinischen Daten birgt auch viele Gefahren, allen voran beim Datenschutz. Die Debatte um die elektronische Gesundheitsakte in Deutschland ist dafür ein Musterbeispiel.

Friedrich von Bohlen hofft darauf, dass sich das Problem vielleicht anders lösen lasse, z. B. indem die Patienten ihre Daten in Zukunft selbst auf dem Handy mit sich herumtragen. Es gebe ja heute bereits USB-Sticks, „da spucken Sie drauf, und ein paar Sekunden später haben Sie ihren DNA-Fingerabdruck in der Hosentasche.“ Für Jugendliche sei das Smartphone eh schon der Mittelpunkt ihres Lebens. Jürgen Debus sah an diesem Punkt schon eine „Anmache 4.0“ aufziehen: „Homozygot mit blauen Augen, na, wie wäre es mit uns beiden?“, warf er mit einem Schmunzeln ein.

Das sehr ernste Problem dahinter nennt Thomas Schulz „Konsumenteneugenik“. Jürgen Debus betonte, dass man die Menschen darauf vorbereiten müsse, was es bedeute „wenn man sein Genom ins Internet stellt“. Neue Technologien dürften „nicht einfach freigeschaltet“ werden.

Die neuen Technologien seien „an sich nicht gefährlich“ sagte Friedrich von Bohlen, aber könnten sich nur wenige Menschen darunter auch etwas vorstellen. Grundsätzlich sei der technologische Fortschritt nicht aufzuhalten.

Auf die Frage, wie das Gesundheitssystem mit der neuen Datenmedizin umgehen solle, plädierte Friedrich von Bohlen für neue „Belohnungsstrukturen“, die vor allem „langfristig“ angelegt sein müssten. Es müssten Anreize geschaffen werden, die Daten frühzeitig ins System zu spielen. Patienten könnten dafür z. B. in Form von Kryptowährung ausgezahlt werden, sagte er. Vielleicht hätten wir später mal einen „technischen Arzt“ und einen „menschlichen Arzt“, die beide zum Wohl des Patienten zusammenarbeiteten.