Wie sinnvoll ist eine Alzheimer-Früherkennung? (Pitch)

Alzheimer gilt als größtenteils unverstanden und ist nicht heilbar. Mithilfe neuer Bluttests sowie Apps und Datenanalysen soll die Krankheit neu vermessen und früher erkannt werden. Macht das Sinn?

Es ist eine lange Reise ins Nichts. Und sie beginnt für viele schon dann, wenn sie noch gar nichts davon bemerken. Die Alzheimer-Krankheit kommt auf leisen Sohlen, doch die Folgen sind desaströs. Der neueste Hoffnungsschimmer für knapp 2 Millionen Alzheimer Betroffene allein in Deutschland trägt den Namen Lecanemab, ein synthetischer hergestellter monoklonalen Antikörper, der sich gegen die für Alzheimer typischen Beta Amyloid-Ablagerungen im Gehirn richtet. Zwar wurde der bedeutsame Effekt  des Wirkstoffs statistisch nachgewiesen, doch es herrscht Zurückhaltung darüber, was das genau für die Lebensqualität der Erkrankten im Alltag bedeutet. Außerdem müssen Patienten mit Nebenwirkungen wie vermehrten Mikroblutungen im Gehirn rechnen. Kostenpunkt: geschätzte 26.5000 US-Dollar pro Jahr.

Für eine milde Symptombehandlung mit erheblichen Risiken ist das eine Menge Geld, von Heilung kann weiterhin keine Rede sein. Denn: die eindeutige „Aufschlüsselung“ von Alzheimer im Sinne eines eindeutigen pathophysiologischen „Profils“ oder „Mechanismus“ liegt nach dem aktuellen Stand der Forschung in weiter Ferne. Wissenschaftler streiten über verschiedene therapeutischen Ansatzpunkte. Neben den Amyloid-Beta-Plaques werden z. B. auch oxidativer Stress und veränderte Prozesse bei der Steuerung des Energiehaushalts in den Zellen sowie immunologische Prozesse (z. B. als Reaktion auf Entzündungen) mit der Krankheit assoziiert, alles Zusammenhänge, die im Detail noch längst nicht erforscht sind – womöglich noch eine Aufgabe für Generationen von Forschern. Der „Heureka“-Moment der Alzheimer-Forschung könnte also noch eine Weile auf sich warten lassen.

Neue diagnostische Methoden

Und doch gibt es immer wieder Hoffnung. Aktuell: neue Eiweiß-Biomarker, die sich über eine einfache Blutprobe nachweisen lassen, Proteine neben Amyloid beta mit Kürzeln wie APP, NFL, NSE, VLP-1, HFABP MCP-1 und GFAP sollen die Krankheit neu beleuchten. Sie sollen nicht nur etwas über das Vorhandensein oder das Fortschreiten der Krankheit verraten, sondern gelten als auch relativ praktikable Methode und als deutlich günstiger als die technisch aufwendigen Bildgebungsverfahren CT und PET (Positronen-Emissions-Tomografie) bzw. die Entnahme von Rückenwasser, und sie sind weniger invasiv. Aus den erfassten Protein-Konzentrationen werden dann Risiko-Scores berechnet, die z. B. Aufschluss darüber geben sollen, ob erste kognitive Einschränkungen möglicherweise in eine Demenz münden.

Hinzu kommen neue digitale Tools für eine differenzierte Diagnostik bereits in den eigenen vier Wänden. So entwickelt das Unternehmen neotiv aus Magdeburg kognitive Tests zur Alzheimer-Früherkennung über eine mobile App. Die erfassten Daten werden über eine angeschlossene Web-Plattform ausgewertet. Die Tests fragen wissenschaftlich nachgewiesene Muster kognitiver Alzheimer-Einschränkungen („funktionelle Gedächtnisnetzwerke“, neotiv) ab. Dazu zählen beispielsweise die „mnemonische Diskrimination“ (Fähigkeit zur Unterscheidung schnell aufeinanderfolgender Stimuli, selbst wenn diese sehr ähnlich sind), die Fähigkeit zur Zuordnung von Name und Gesicht oder auch die Fähigkeit zur Vervollständigung von Mustern oder einfachen Zahlen- und Maltests wie TMT (Trail Making-Test). Der aus den digitalen Biomarkern generierte Patientenbericht könnte dann vom Hausarzt entsprechend ausgewertet werden, wie Tobias Bittner von Roche im Rahmen einer Präsentation auf der Bits and Pretzels Healthtech 2023 erläutert. neotiv (gegründet im Jahr 2017 als Spin-off der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE)) verweist auf mehrere laufende Studien zur klinischen Validierung der App. Die App ist aber weiterhin nicht als DiGA beim BfArM gelistet, was eigentlich bereits für das Jahr 2021 geplant war. 

Die App wird aber von zahlreichen Krankenkassen im Rahmen von Selektivverträgen erstattet. Kooperationspartner Roche will passend dazu medizinischen Apps und Geräte sog. Plattform- und Disease-Management-Ökosysteme entwickeln, in denen Geräte, Anwendungen, Services und Daten „intelligent“ miteinander kombiniert und ausgewertet werden sollen. Die Aussagequalität solcher Tests könnte in der Berechnung der Wahrscheinlichkeit einer möglichen Erkrankung, der Bewertung des Krankheitsverlaufs oder auch in der Überprüfung des Ansprechens auf eine Behandlung liegen.

Alles Voraussetzungen, um Alzheimer „patientenzentriert“ (neotiv) frühzeitig beim Hausarzt „abklären“ zu lassen und bereits im häuslichen Umfeld „erkennen“ zu können. neotiv wirbt mit einer verbesserten Genauigkeit zu üblichen Batterien neuropsychologischen Tests und einer Entlastung des hausärztlichen Alltags.

Bisher führt der Weg der Abklärung von Alzheimer in der Regel von Pflegenden und Angehörigen oder den Patienten selbst, die erste Auffälligkeiten kognitiver Einschränkungen bemerken, über den Hausarzt zu einem Spezialisten wie einem Neurologen oder Geriater. Das Diagnostik-Spektrum beginnt mit einfachen neuropsychologischen Tests wie MMST, DemTect, TFDD, MoCA oder auch einem Uhrentest, die auch von nicht ärztlichem Personal durchgeführt werden können, z. B. in spezialisierten Gedächtniskliniken (sog. Memory Clinics). Danach folgt die Diagnostik bei einem Spezialisten über den Nachweis von Biomarkern im Blut, einer Untersuchung des Rückenmarkwassers bis zu speziellen CT- und PET-Bildgebungsverfahren, in denen die für die Krankheit typischen Protein-Ablagerungen nachgewiesen werden können.  Auch Gentests  (z. B. auf die derzeit als krankheitsrelevant geltenden Gene Apolipoprotein E (APOE) und Presenilin 1 (PSEN1) können Hinweise auf das Ausbrechen der Krankheit liefern.

95 % der Diagnosen für Alzheimer werden erst ab dem 65. Lebensalter gestellt.

Was wird überhaupt gemessen?

Die klinische Evidenz digitaler Biomarker ist aber noch umstritten, was einerseits wissenschaftliche, aber auch ganz praktische Gründe hat, z. B. weil Tests unbeaufsichtigt von Laien (und potenziell kognitiv eingeschränkten Menschen) durchgeführt werden.

Zum einen bedarf es wissenschaftlich abgesicherter „Endpunkte“, also zweifelfreier Bewertungsmaßstäbe z. B. hinsichtlich der Sensitivität (Prozentsatz richtig erkannter Krankheitszustände insgesamt) und Spezifität (möglichst geringe Zahl falsch positiver Ergebnisse) eines abfragten Werts und seiner Relevanz für einen pathophysiologischen Zustand.

Mehrere Studien zu digitalen Biomarkern (wie (RADAR-AD (Remote assessment of disease and relapse—Alzheimer’s disease), IDEA-FAST (Identifying digital endpoints to assess fatigue, sleep and ADL in neurodegenerative disorders and immune-mediated inflammatory diseases) and Mobilise-D (Connecting digital mobility assessment to clinical outcomes for regulatory and clinical endorsement)), die von der Innovative Health Initiative (IMI), einer Public-Private-Partnership zwischen der EU und der europäischen Life Scienes-Branche, finanziert werden und beispielsweise auf der kontinuierlichen Messung von Schlaf, sozialer Aktivität oder Mobilität (Dauer, Gangart) basieren, suchen genau diese für die Alzheimer-Frühdiagnostik.

Von der Absicherung der klinischen Evidenz (im Alltag) hängt die Überführung in die Regelversorgung ab. 

Für die Datenverarbeitung beim Hausarzt oder für Bluttests müssen auch praktische Fragen, wie z. B. die Möglichkeit zum Kühlen von Blutproben in einer hausärztlichen Praxis oder des Datenmanagements und der Datensicherheit Bedacht werden.

Erfolgreiche Früherkennung nicht nur eine Frage von neuen Tools und diagnostischen Verfahren

Zu berücksichtigen gilt es aber auch ganz menschliche, psychologische Faktoren. Zum einen ist der Verlust von geistiger Leistungsfähigkeit mit einem hohem Stigma verbunden. Betroffene scheuen den Gang zum Arzt und/oder das offene Gespräch mit nahestehenden Personen, um einer eindeutigen Diagnose zu entkommen. Die kleinen „Vergesslichkeiten“ des Alltags werden zur alterstypischen Normalität erklärt. Letzteres kann auch an einem mangelnden Bewusstsein für eine mögliche pathologische Ursache liegen. Selbst wenn Menschen die Diagnose für sich in Betracht ziehen, kann das Wissen über fehlende Heilungschancen und die Aussicht auf die langjährige Einnahme von Medikamenten, eine systematische Abklärung ebenfalls verhindern.

Neue Versuche, den diagnostischen Pfad zu einer erfolgreichen Früherkennung neu zu definieren betonen deswegen auch immer wieder den Wert des sozialen Umfelds. Angehörige und Pflegende sollen kognitive Defizite frühzeitig erkennen können, was aber eine Sensibilisierung für die Krankheit und einen aktuellen Kenntnisstand über die Krankheit erfordert. Die zukünftige „Demenzbetreuung“ soll sich neben dem Hausarzt auch auf speziell geschulte Krankenschwestern und Pflegemanager („memory care enabled workforce“) stützen, wie sie heute teilweise in den Gedächtnisambulanzen bereits arbeiten.

Gerade beim Einsatz von digitalen Tools stellen sich viele methodische Fragen, z. B. wie Betroffene, die vielleicht bereits unter ersten milden kognitiven Defiziten leiden, im Alltag ihren eigenen Geisteszustand selbst zuverlässig überwachen sollen. Eine regelmäßige Anleitung im Alltag wäre mit einem hohen zeitlichen Aufwand verbunden.

Sollten noch keine Krankheitszeichen vorliegen, dürfte die Motivation und auch die Compliance zur regelmäßigen vorsorglichen Kontrolle relativ gering sein, auch wenn sich durch langfristig ggf. eine frühzeitige Diagnose und Therapie erreichen ließe.

Nichtsdestotrotz befördern digitale Tools die Idee sog. „integrierter Versorgungsmodelle“, also der umfassenden Betreuung von Patienten über verschiedene Gesundheitsdienstleister hinweg, und zwar nicht nur diagnostisch/therapeutisch, sondern auch z. B. psychologisch und sozial im Rahmen des Gemeinwesens, und das über den gesamten Krankheitsverlauf hinweg. Auch eine verstärkte Einbindung in klinische Studien (z. B. durch die Bereitstellung von Daten und Feedback über digitale Tools) gehört dazu. 

Bleibt die entscheidende Frage: Wie sinnvoll ist eine Früherkennung für eine Krankheit, für die es überhaupt keine Therapie gibt?

Die therapeutischen Aussichten sind derzeit jedenfalls ernüchternd. So zitiert Prof. Dr. Elmar Gräßel in einem Video-Vortrag zur Debatte zur Alzheimer-Früherkennung aus der aktuellen Demenz-Leitlinie (aus dem Jahr 2016):

„Es gibt keine Evidenz für eine wirksame Pharmakotherapie zur Risikoreduktion des Übergangs von MCI zu einer Demenz.“

„Es gibt keine Evidenz für wirksame nichtpharmakologischeTherapien zur Risikoreduktion des Übergangs von MCI zu einer Demenz.“

Prof. Frank Jessen vom DZNE spricht immerhin von einer signifikanten Verlangsamung des Krankheitsverlaufs bei frühzeitiger Diagnose durch den neuen Wirkstoff Lecanemab.

Betroffene könnten sich laut Gräßel nach einer Frühdiagnose lediglich selbstbestimmter auf die Situation einstellen, so in Summe sein Credo. Das gelte auch für Angehörige. Auch seien „Frühdiagnostizierte“ prinzipiell für die medizinische Forschung interessant, z. B. „bei der Suche nach anderen prinzipiell behandelbaren Ursachen kognitiver Defizite“. Andererseits entstünde durch das Wissen um die Erkrankung aber eine erhebliche seelische Belastung und die Gefahr einer Stigmatisierung in Beruf und Privatleben. 

Von der Idee, selbst einfache neurologische Tests als Alzheimer-Vorsorge zu etablieren, wird in der S3-Leitlinie „Demenzen“ ausdrücklich abgeraten: „Die Anwendung kognitiver Tests, auch kognitiver Kurztests, oder apparativer diagnostischer Verfahren bei Personen ohne Beschwerden und Symptome einzig mit dem Ziel des Screenings für das Vorliegen einer Demenz oder einer Erkrankung, die einer Demenz zugrunde liegen kann, wird nicht empfohlen.“

Genannt werden verschiedene Gründe. Zum einen gelten die Verfahren als zu unspezifisch und wenig aussagekräftig im Hinblick auf die Art und Schwere einer hochdifferenzierten Erkrankung. Das kann eine unnötige Unsicherheit beim Patienten als auch nicht erforderliche, kostenintensive Nachfolgeuntersuchungen nach sich ziehen, wäre also mit einer finanziellen Belastung des Gesundheitssystems verbunden. Die oft unhinterfragte These, dass eine Frühdiagnostik tatsächlich zu Einsparungen im Gesundheitswesen führe, sei also ebenfalls nicht so leicht zu beantworten. Die Leitlinie hält eine Frühdiagnostik jedoch z. B. für beschwerdefreie Personen sinnvoll, bei denen „sicher“ ist, dass sie ein hohes Risiko für kognitive Beeinträchtigungen bzw. Demenzen besitzen. Deshalb plädiert Gräßel bei der „Früherkennung“ für eine Einzelfallentscheidung, und nicht für ein allgemeines „Screening“ von ganzen Bevölkerungsgruppen.

Eine weitere Möglichkeit, einer im Detail noch unverstanden Krankheit Paroli zu bieten sieht Gräßel in der Prävention. Neben einem „allgemeinen gesundheitsförderlichen Lebensstil“ gehöre auch die rechtzeitige Behandlung auslösender Grunderkrankungen, in diesem Fall eine leitliniengerechte Diagnostik und Therapie auslösender Ursachen, die vor allem auf Gefäßerkrankungen zurückzuführen seien, also der Vorbeugung von Risikofaktoren wie Bluthochdruck, Diabetes mellitus, hohen Blutfetten, Übergewichtigkeit und Nikotinmissbrauch, aber auch Schlafdefizite, Depressionen oder mangelnde körperliche und geistige Aktivität.

Laut der Demenzforscherin Elisabeth Stögmann von der medizinischen Fakultät in Wien könnten bis zu 40 % der Demenzerkrankungen durch eine entsprechende Anpassung des Lebensstils verhindert werden.

Quellen: 

– „Paving the way for the future of Alzheimer“, Vortrag, Bits and Pretzels Health 2023, Folien von Roche

– „Designing the next-generation clinical care pathway for Alzheimer’s disease“ (Link)

  • „The Future of Precision Medicine in the Cure of Alzheimer’s Disease“ (Link)
  • „Digital endpoints in clinical trials of Alzheimer’s disease and other neurodegenerative diseases: challenges and opportunities“ (Link)
  • „Kontroverse um die Alzheimer-Frühdiagnostik – eine literaturbasierte Übersicht über die Vor- und Nachteile“ (Link, Link)
  • „THE PATIENT JOURNEY IN AN ERA OF NEW TREATMENTS“ (Link)

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